Autofreier Kiez startet als Light-Version
Experiment im Graefekiez beginnt im April
Im Graefekiez startet im April das viel diskutierte Modellprojekt zum autofreien Kiez. Der Praxistest fällt allerdings kleiner aus als ursprünglich geplant. 400 Autoparkplätze fallen zunächst weg. Sie machen Platz für Lade- und Lieferzonen, Jelbi-Stationen und Spielen auf der Straße.
Die Vorbereitungen für das Mobilitätswendeprojekt „Graefekiez ohne Parkplätze“ sind abgeschlossen. Im April soll es zunächst im Kernbereich auf der westlichen Böckhstraße sowie in der Graefestraße zwischen Böckh- und Dieffenbachstraße losgehen. Dort entfallen schrittweise 400 Autostellplätze, darunter 80 im Kernbereich mit mehreren Schulstandorten wie der Lemgo-Grundschule. Der frei werdende Platz soll temporär anders genutzt werden: zum Spielen, für Grün, Parklets oder Gastronomie. Je nachdem, welche Ideen die Anwohner so haben. Auf anderen früheren Parkflächen plant das Bezirksamt 13 Jelbi-Stationen für Sharing-Fahrzeuge, Elektroroller und Lastenräder sowie bis zu 37 Lade- und Lieferzonen für den Wirtschaftsverkehr.
„Öffentlicher Raum ist knapp“, sagte Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne) bei der Präsentation der Pläne. „Mit dem Projekt Graefekiez erproben wir gemeinsam mit der Nachbarschaft, wie Straßen der Zukunft aussehen können. Gleichzeitig will der Bezirk die Schulwege und den Verkehr sicherer machen. Am Hohenstauffenplatz soll eine Durchfahrtssperre das Abkürzen durch den Graefekiez vom Kottbusser Damm zur Urbanstraße verhindern. Ansonsten kommt man mit dem Auto aber auch künftig durch das Wohnviertel. Erhalten bleiben auch die Behindertenparkplätze. Anwohner, die ihre Parkplätze verlieren, können ihre Autos im Parkhaus am Hermannplatz abstellen und zwar für 50 Euro im Monat, so das Bezirksamt. 300 würden die Alternative bereits nutzen, informierte Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes. „Das ist ein erster Erfolg dieser Pull-Maßnahme.“ Aktuell seien noch 100 Stellplätze im Parkhaus frei.
Anwohner sollen beteiligt werden
Bis zum Sommer will das Straßen- und Grünflächenamt alle Maßnahmen für den Praxistest umgesetzt haben. Annika Gerold zufolge soll das Projekt 2024 überprüft und darüber beraten werden, ob es schrittweise auf den gesamten Kiez ausgeweitet wird. Die Anwohner würden dabei beteiligt. „Schlussendlich entscheidet die BVV, was im Graefekiez bleibt und was nicht“, so Gerold.
Begleitet wird das Experiment vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Das plant regelmäßige Befragungen der Anwohner und weitere Verkehrsmessungen. „Ob das Projekt überhaupt klappt und angenommen wird, wissen wir noch nicht“, sagte WZB-Experte Andreas Knie. Wenn, dann könne es als Modell auch für andere Berliner Stadtteile dienen.
Den Verkehrsversuch setzt das Bezirksamt nach einem Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) im Juni 2022 um. Seitdem wird er kontrovers diskutiert. Nach rechtlicher Prüfung entschloss sich das Bezirksamt, vom ursprünglichen Plan für einen komplett freien Graefekiez und dem Wegfall von 2000 Parkplätzen im gesamten Kiez vorerst abzurücken. Stattdessen entschied es sich für ein schrittweises Vorgehen, auch um gegen mögliche Klagen gewappnet zu sein. Stichwort Bergmannstraße. Hintergrund ist, dass der verkehrsberuhigte Graefekiez „nur eine durchschnittliche Gefährdungslage“ hat, so Gerold. Der Verkehrsversuch muss daher rechtssicher begründet sein. Heranzog man dafür den Paragrafen 45, Absatz 1b der Straßenverkehrsordnung, der Nutzungsbeschränkungen zu Forschungszwecken erlaubt.
Einwohnerantrag in der Warteschleife
Über den Einwohnerantrag unter dem Titel „Keine Experimente mit den Menschen im Graefekiez!“ ist derweil noch nicht entschieden. In der BVV und in den Ausschüssen dreht er schon länger seine Runden. Die CDU-Fraktion hatte deshalb für den 9. Februar eine Sonder-BVV beantragt. Doch der Einwohnerantrag als einziger Tagesordnungspunkt wurde schon nach wenigen Minuten auf Antrag der Grünen, SPD und Linken auf nach der Wahl vertagt. In ihrem Antrag fordern Anwohner das Bezirksamt auf, den BVV-Beschluss von Juni 2022 aufzuheben und das Experiment sofort zu stoppen. Die Online-Befragung des WZB, die 2021 eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Umwandlung der Autoparkplätze ergeben hatte, reiche für den geplanten Modellversuch nicht aus. Von den 1041 Friedrichshainern und Kreuzbergern, die an der repräsentativen Erhebung für den Samariterkiez und den Graefekiez teilgenommen hatten, gaben zwölf Prozent an, dass sie täglich oder fast täglich das Auto nutzen. 25 Prozent der Befragten teilten mit, dass sie mehr Parkplätze für wichtig oder sehr wichtig halten. Laut WZB kommen im Graefekiez, wo rund 20 000 Menschen wohnen, 182 private Autos auf 1000 Einwohner. Im Berliner Durchschnitt seien es 335 Pkw pro 1000 Einwohner.
Laut Bezirksamt kostet der Feldversuch im Graefekiez rund 500 000 Euro. Finanziert wird er von drei Stiftungen, darunter ist die Deutsche Umweltstiftung. Bis Mai 2024 will das WZB im zweiten Schritt ein Verkehrs- und Freiflächenkonzept für den gesamten Kiez vorlegen. Die Beteiligung der Anwohner koordiniert der Verein Paper Planes. Der plant in den kommenden Wochen Straßenausstellungen, eine Straßenakademie und feste Sprechzeiten vor Ort – für Ideen und Beschwerden. „Wir laden alle ein, sich an der Umgestaltung aktiv zu beteiligen“, sagte Simon Wöhr. Zum Auftakt soll es am 22. April eine größere Infoveranstaltung auf dem Zickenplatz geben.
Autor:Ulrike Kiefert aus Mitte |
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