"Diese Menschen sind unsichtbar"
Projekt „Arztpraxisinterne Sozialberatung“ kann dank Lottomitteln erweitert werden
Krank, arm, alt, einsam: Jede Situation für sich ist schwierig genug – was aber, wenn alle zusammenkommen? Genau das trifft in Großstädten auf immer mehr Menschen zu, Hilfsangebote sind also gefragt. Ein in Lichtenberg angesiedeltes Projekt heißt „Arztpraxisinterne Sozialberatung“. Wegen des immensen Bedarfs soll es nun ausgebaut werden.
Oft merken nur die Hausärzte, dass etwas nicht stimmt – immer dann, wenn einer ihrer hochbetagten und auf Medikamente angewiesenen Patienten über längere Zeit nicht erscheint. „Für viele ältere Menschen ist der Hausarzt der letzte Anker“, sagt Lichtenbergs Gesundheitsstadträtin Katrin Framke (parteilos für die Linke). „Die Praxis ist der einzige Ort, wo sie noch hingegen, vor allem, wenn sie sonst keine sozialen Kontakte haben und mobil eingeschränkt sind.“ Resultat dieser Entwicklung: Die Patienten wollen in den Sprechstunden nicht bloß über ihre Gebrechen reden. Sie suchen Rat, Beistand, Lebenshilfe. Der Arzt oder die Ärztin ist oft ihre einzige Bezugsperson. Ein Anspruch, dem die Mediziner weder in zeitlicher noch fachlicher Hinsicht gerecht werden können.
An diesem Punkt setzte vor sechs Jahren das Projekt „Arztpraxisinterne Sozialberatung“ des Vereins soziale Gesundheit an. Die Idee: Der Patient kann nach einem Termin beim Hausarzt gleich nebenan auch über seine nicht-medizinischen Probleme sprechen. Jeweils ein paar Stunden in der Woche kommt dafür ein sozialpsychologisch geschulter Berater in die Praxis. Ob es um einen notwendigen Pflegegrad oder einen Schwerbehindertenausweis geht, um Probleme mit der Mietzahlung oder einen pflegebedürftigen Partner – im Gespräch gibt es praktische Hilfe, Infos und Tipps. Bei manchem genügt das sprichwörtlich offene Ohr.
Über Hilfsangebote informieren
Stellt der Berater schwerwiegende psychische Probleme fest, wird der Arzt einbezogen. Ab und an reicht ein Hinweis auf vorhandene Anlaufstellen. „Wir haben ja kostenlose Beratungs- und Hilfsangebote im Bezirk, auch für ältere, kranke und einsame Menschen“, erklärt Dr. Martyna Voß vom Verein für Soziale Gesundheit. „Das Problem ist nur, man muss sie auch kennen.“
Nach Zahlen des Bezirksamtes lebten Ende 2015 genau 14 196 Frauen und Männer im Alter 80 plus in Lichtenberg. Über 80 Prozent von ihnen hatte keinen Pflegegrad, der mit dem regelmäßigen Besuch einer Fachkraft verbunden ist. Fast ein Viertel wohnte ganz allein. „Wenn dann noch eine prekäre finanzielle Situation hinzukommt, wenn Familie oder Freunde fehlen, sind diese Menschen unsichtbar“, sagt die Ärztin. „Sie leben völlig isoliert und werden von niemandem mehr erreicht.“
Ein großes Problem – nicht zuletzt für den Erfolg von Therapien. Krankenhausaufenthalte könnten verkürzt oder ganz vermieden werden, wenn man die Betroffenen aus ihrer Isolation holt, sagt die Expertin. Armut macht einsam, Einsamkeit leistet Krankheiten Vorschub. Heilung funktioniert besser, wenn keine existenziellen Sorgen drücken. „Wenn das Soziale im Lot ist, stellt sich auch die Genesung ein“, so Voß. Deshalb arbeitet der Verein auch an der Schnittstelle von stationärer und ambulanter Versorgung.
Ärzteversorgung muss besser werden
Eine Medizinerin aus Fennpfuhl war die erste, die sich vor sechs Jahren auf das Experiment „Arztpraxisinterne Sozialberatung“ einließ. Schnell stellte sich heraus, dass dieses Angebot mehr als willkommen ist. Schon im ersten Jahr wurden über 600 Gespräche geführt. Elf Hausärztinnen und -ärzte an fünf Praxisstandorten im Bezirk sind inzwischen am Projekt beteiligt – längst nicht genug, wie die ständige Auslastung zeigt. Die Beratungsstellen müssten unbedingt weiter ausgebaut werden, darin sind sich Voß und Gesundheitsstadträtin Katrin Framke einig. „Das ist ein wunderbares Projekt“, sagt Framke. „Wir kämpfen in Lichtenberg ständig um eine bessere Ärzteversorgung, und für Initiativen wie diese sind wir sehr dankbar.“
Das Bezirksamt konnte das Projekt in den vergangenen Jahren zwar finanziell unterstützen, für mehr reichten die Mittel aber nicht. Der Verein hat sich daher an die Deutsche Stiftung Klassenlotterie gewandt und kürzlich eine Förderzusage bekommen. Ab 2020 soll die Sozialberatung für weitere drei Jahre und in insgesamt zehn Hausarztpraxen angeboten werden. „Wir werden uns aber noch um weitere Zuwendungen bemühen, damit wir das Projekt dauerhaft auf feste Füße stellen und vielleicht sogar auf Berlin ausweiten können“, so Voß.
Mehr Informationen gibt es unter www.sozialegesundheit.de
Autor:Berit Müller aus Lichtenberg |
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