Berliner Grund-Bildungs-Zentrum hilft Erwachsenen
Den richtigen Bus erahnen sie nur am Muster der Anzeigetafel, die Preise im Supermarkt sind Hieroglyphen. Und wofür beim Einkauf das Geld langt - ein Erfahrungswert. Denn Zahlen und Buchstabenfolgen kennen Analphabeten nur als rätselhafte Chiffren. Ihr Leben gleicht einem Hindernislauf in ständiger Panik, entlarvt zu werden. Das Unvermögen zum Lesen und Schreiben: ein Manko, das Betroffene in Zeiten immer höherer Anforderungen im Job zur Arbeitslosigkeit verdammt.
Angesichts dieses drängenden Problems geriet die Eröffnung des neuen Grund-Bildungs-Zentrums (GBZ) in der Paretzer Straße 1 unter der Trägerschaft des Vereins "Lesen und Schreiben Berlin" und des "Arbeitskreises Orientierungs- und Bildungshilfe" zur Feier.
"Wir dürfen Analphabetismus nicht als Randthema betrachten, sondern müssen hier gezielt anpacken", erklärte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) zur Eröffnung. "Es ist leider immer noch ein Tabu." In erster Linie dient das Wilmersdorfer GBZ als Anlauf- und Beratungsstelle. Die eigentlichen Lehrräume des Vereins "Lesen und Schreiben" bleiben im Herrnhuter Weg 16 in Neukölln. "Dort erwartet die Teilnehmer ein Vollzeitalltag, den wir uns nicht vorstellen dürfen wie den Unterricht in Schulklassen", sagt Gabriele Stanek-Schlicht. So steht umfassende Grundbildung auf dem Plan: Höflichkeit, Pünktlichkeit, Gesundheit und Gesellschaft - ein Programm, das in 31 Jahren viele hundert Lernende mit Erfolg durchliefen.
Vermutlich hat jeder im Bekanntenkreis wenigstens einen Betroffenen, der sein Leiden verbirgt. Steht man ihm nahe, hilft das offene Ansprechen im vertraulichen Ton. Aber das Problem zu erkennen, ist gar nicht so einfach, wie man meint. Jahrelang trainierte Kreativität, um den grundlegenden Mangel zu kaschieren, zeugt bei Betroffenen von einer hohen Intelligenz. "Wir würden ihre Situation keine zwei Tage aushalten", verweist Stanek-Schlicht auf das Talent, erfolgreich zum improvisieren. "Sie können mir glauben: Mir ist noch nie ein dummer Analphabet begegnet." Die Überwindung der Schwäche wäre allerdings eine noch größere Leistung. Am Anfang steht das Eingeständnis, die Bitte um Hilfe. Wilmersdorf hat dafür jetzt den passenden Ort.
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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