Eine literarische Dame ehrt Ringelnatz zum 140. Geburtstag

Foto: H.D. Kühn Pressefoto
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Jeder nimmt im Laufe des Tages ganz selbstverständlich verschiedene Rollen ein – zu Hause, im Beruf, beim Einkauf, wenn man beim Falschparken erwischt wird usw. Und abends sieht man fern oder geht ins Kino oder Theater und schaut jetzt anderen bei ihrem Rollenspiel zu. Vielleicht trifft man dabei ja auch einmal eine literarische Dame.

Im griechischen Theater vor bald 2500 Jahren wurden Frauenrollen von Männern dargestellt. Ebenfalls noch in Shakespeares Stücken vor gut 400 Jahren. Erst in der Folgezeit begannen professionelle Schauspielerinnen aufzutreten. Heute sind Männer in Frauenrollen selten, und eine besondere Seltenheit ist es, wenn sie eine literarische Dame verkörpern. Seit 45 Bühnenjahren macht H.D. Kühn genau dies, das heißt: in Frauenkleidung literarische Texte singend oder rezitierend vorzutragen. Er hat sich dabei auf die leichte Muse der zwanziger Jahre spezialisiert, insbesondere das Cabaret der zwanziger Jahre und Joachim Ringelnatz: „Ich liebe Ringelnatz. In einem früheren Leben muß ich mit ihm Kontakt gehabt haben“, sagt er, und weiter: „Ich möchte die Chansons glaubwürdig präsentieren. Dazu beschäftige ich mich mit jedem Wort, denn Chansons erzählen wahre Geschichten. Ihr Vortrag verlangt Leidenschaft und Temperament. Das erwarte ich auch von den Pianisten, die mich dabei begleiten.“

Der Anfang

Den Anstoß zu all dem gab ihm der Besuch in einem Café, in dem Kleinkünstler auftraten, und als er sie sah, dachte er sich: Das kann ich besser! Der erste Schritt war dann 1977 die Anmietung eines Raumes in einer der Passagen, die das Kudamm-Karree durchzogen. „Welcher Mut, einfach ein Café zu eröffnen! Ein Sprung ins kalte Wasser! Alles war völlig leer, ringsum nur Glas. Die Möbelstücke habe ich bei Trödlern zusammengesucht, die Sammeltassen auch. Die Vorhänge an den Fenstern zu den Passagen habe ich selbst aus Taft genäht. Es gab einen Spiegel in einer geschnitzten Fassung, drei Meter hoch, und eine Säule, die ich golden angemalt hatte. Alles sollte mit Niveau sein. Und dann habe ich Werbezettel mit Letraset* hergestellt und verteilt.“ H.D. Kühn trat einmal die Woche in seinem Café City Bühne Classic Dreams auf, später kamen Auftritte von Kollegen dazu. 1982 war damit Schluß. Seitdem ist er freischaffend.

Gern erinnerte Auftritte

Unter den vielen Orten, an denen er in den letzten 40 Jahren aufgetreten ist, gibt es mehrere, an die er sich besonders gern erinnert: Da ist Thun in der Schweiz: „Ich war dort mehrfach. Solch ein exzellentes Publikum, gebildet und liebevoll.“ Dann die 23 Konzerte zugunsten von Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe, an denen er im Laufe von zwölf Jahren mitgewirkt hat. Weiter der Autritt im Rahmen einer Varietégruppe auf dem „Traumschiff“, der MS Berlin, wo sie später der Crew einen Abend geschenkt haben. Und schließlich seine Auftritte im Café Uhland – auch schon lange geschlossen: „Das Wilmersdorfer Publikum sprang an.“
„Immer habe ich selbst geguckt, wo es eine Auftrittsmöglichkeit gibt, habe Klinken geputzt, mich immer selbst gemanagt. Selten gab es feste Gagen, außer wie zum Beispiel bei Betriebsfesten bei Siemens oder Schering. Oft heißt es: Eintritt frei, Austritt Hut.“

Von H.D. Kühn zur literarischen Dame

Die jedem Auftritt vorausgehende Verwandlung von H.D. Kühn in die literarische Dame ist anstrengend und dauert eine Stunde. „Vier Masken lege ich dazu auf: erst die Grundmaske, um die Haut weich zu machen, dann die Abdeckung; es folgt als drittes Puder und schließlich die Farbe. Wenn ich fertig bin, finde ich mich schön.“ Dazu die Garderobe: 30 verschiedene Kleider hängen in seinem Schrank, alle selbst entworfen. Mindestens zwei davon trägt er an einem Abend. „Wenn ich dann auf der Bühne stehe, bin nicht ich das; ich bin hinter meiner Maske versteckt. Ich gebe meine Energie und sehe bis in die letzte Reihe, wie das Publikum auf mich reagiert.“ Was das Publikum seinerseits sieht und hört, ist ein Künstler, der seine Texte mit stimmlicher und körperlicher Leidenschaft vorträgt. Und das in einer Weise, daß auch in einem großen Saal mit 300 Besuchern jeder ihn versteht.

Am 12. August wieder

Die nächste Gelegenheit, H.D. Kühn als literarische Dame im Kunstforum Belziger 1 zu erleben - Eintritt frei/Austritt Hut -, ist am 12. August anläßlich des 140. Geburtstags von Joachim Ringelnatz. Als H.D. Kühn vor 20 Jahren mit diesem Programm auftrat, merkte der Rezensent der Zeitung Die Welt an: „Kühn beherrscht das komplette Ringelnatz-Repertoire.“

___________________
* Letraset: Anreibebuchstaben; bis in die 1980er Jahre professionell genutzt, um ordentlich aussehende Schriften auf Papier usw. zu bringen.

Foto: H.D. Kühn Pressefoto
Foto: H.D. Kühn Pressefoto
Autor:

Michael Roeder aus Wilmersdorf

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