Gedenktafel am Haus von Marcel Reich-Ranicki eingeweiht
Im dritten Stock, wo am Balkongeländer die Blumen nicken, da muss es geschehen sein. Da trafen sich die Lippen des jungen Marcel-Reich-Ranicki mit denen einer jungen Frau. Es sind längst nicht nur Erinnerungen, die der spätere Literaturkritiker mit ins Warschauer Ghetto nahm. Was ihm in der Güntzelstraße 53, wo die Stolpersteine seiner Eltern frisch im Pflaster stecken, alles widerfuhr, steht in seiner Biographie "Mein Leben" geschrieben. Und was dort noch fehlt, das ergänzten nun sein alter Weggefährte Hellmuth Karasek und Professor Andrew Ranicki, mit der Familie aus Edinburgh angereist anlässlich der Gedenktafeleinweihung zu Ehren seines Vaters.
"Das war gar nicht so schlecht", soll Marcel seinen ersten Kuss eine Etage über der elterlichen Wohnung beschrieben haben. Aber das sagte er nicht seinem Sohn Andrew, sondern dem kürzlich verstorbenen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher bei einem gemeinsamen Berlin-Besuch in den 90ern. Von 1934 bis 1938 war Reich-Ranicki im zweiten Stock des Hauses heimisch und ging auch in der Nähe zur Schule. Gemessen am Zeitgeist ging es dort nach Kenntnissen Hellmuth Karaseks recht "idyllisch" zu. Drei Deutschlehrer sollen den junge Marcel beurteilt haben: einer konservativ, einer liberal und der dritte "ein strammer Nazi". Von den ersten beiden gab es eine Eins, vom letzteren eine Zwei. "Sehr gut - das konnte man einem Nicht-Arier damals nicht geben", ließ Karasek die Gäste wissen. Während Juden im Rest des Landes schon um Leib und Leben bangen mussten, gewann Reich-Ranicki von Berlin das Bild einer "toleranten Stadt".
Ein Attribut, das der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) im Hier und Jetzt gegen aufkeimenden Antisemitismus verteidigen möchte. Dass inzwischen wieder zahlreiche Juden in Berlin leben, wertet er als "einen Vertrauensbeweis in die Toleranz und Akzeptanz unserer Stadt. Wir werden diese Vielfalt verteidigen."
Und so schritten Karasek, der Regierende und der Professor vor den Augen von über 100 Schaulustigen zur Tat, zupften an einer Kordel und enthüllten so die Gedenktafel an der Hausfassade. "Ich kann nicht anders. Ich muss nörgeln", pflegte sich der Kritiker zu erklären. Aber diese kleine Feierstunde mit Ernst und Witz - sie hätte vor seinem Urteil wohl bestand gehabt.
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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