Berliner Kneipp-Verein verbindet klassische Kuren mit Tai Chi
Wilmersdorf. Erleuchtung beginnt nicht im Kopf, sondern in den Sohlen. Aufgrund dieser Erkenntnis vereint Tai Chi-Lehrerin Christiane Groß chinesische Lehren mit Kneipp-Kuren im Garten. Reporter Thomas Schubert wagte den Selbstversuch.
Da haben wir es also, dieses Chi. Es kitzelt an den Händen, lässt sich drücken und drehen wie ein Ballon, schwebt vor uns in Höhe der Brust. Aber warum man es nicht sehen kann? Die Laienfrage. Sie wird nur stellen, wem die fernöstliche Philosophie fremd bleibt, wer nicht imstande ist, loszulassen vom Denken, wer darin festhängt und nicht mehr entspannen kann.
Also lasse ich mich einfach fallen wie die Damen um mich herum, mache nach, ohne zu werten, befolge die Anleitung von Christiane Groß. Ich befühle das kraftspendende Nichts zwischen meinen Händen, vollführe achtsame Schrittfolgen, hüpfe auf der Stelle, stoße laute Seufzer aus. Ich teste Tai Chi. Und erfahre es wie nur wenige je zuvor. Das Beste aus Fernost mit dem Besten der Kneippkur – bei Christiane Groß gibt es das jeden Mittwoch im Paket.
Das Glück fließt
Wir befinden uns in einem leeren Raum, spüren den zaghaften Sonnenschein im Gesicht und das warme Parkett unter den Füßen. Wir befühlen zwischen unseren Händen das Chi. Dass es unsere Hände wärmt, verdanken wir der Art und Weise, wie wir stehen. Das Glück fließt durch die Füße. Dieser Gedanke ist der entscheidende Punkt. Erst die richtige Art, den Boden unter sich zu fühlen, lässt das Chi wirksam werden im Sinne von Selbstheilung und Erholung.
„Versuchen Sie die Selbstausrichtung. Finden Sie das innere Lot. Setzen Sie sich die Krone auf“, bittet Groß. Die Damen in der Gruppe sollen Königinnen sein, ich der König. Der feste Stand, die sanften Armbewegungen, die kleinen Schritte. Das alles lenkt ab von alltäglichen Sorgen, löst die Verkopfung auf, sorgt ohne sportliche Betätigung für warme Hände und Füße. Nach einer Stunde hopsen wir ein letztes Mal auf der Stelle, stoßen tiefe Seufzer aus, schütteln unsere Glieder. „Die alten Chinesen haben dabei noch mit den Zähnen geklappert“, merkt die Lehrerin an.
Das Zähneklappern folgt draußen im Garten. Wir ziehen jetzt die Socken aus, watscheln im Gänsemarsch durchs Gras. Und dann geht es barfuß durch einen Parcours aus Kästen mit unterschiedlicher Füllung: Sand, Kies, Kork, Erde. Und zuletzt wartet ein Bottich mit eiskaltem Wasser darauf, uns die Wärme des Tai Chi wieder zu entziehen. Eine Kneipp-Kur wie sie im Buche steht. Auf warm folgt kalt. Auf meditative Momente die körperliche Empfindung. Gegensätze gleichen sich aus, das Wechselspiel härtet ab und hält gesund. Und der Mittelpunkt des Spiels sind unsere Füße. Hier verbinden sich die Leeren des Wassertretens und die Weisheit des Tai Chi.
Auf dem Weg zum "inneren Lächeln"
Aber wie kommt eine frühere Lufthansa-Managerin dazu, beides in einen Kurs zu packen? Zum einen, sagt Groß, sei sie als kleines Mädchen mit Kneipp-Kuren aufgewachsen. Zum anderen fand sie während eines Aufenthalts in Singapur Gefallen an der Wirkung des Tai Chi. Als Gast einer Schule für fernöstliche Weisheit tat sie einfach nur, was alle taten: „Wir rannten jeden Morgen zum Training in den Botanischen Garten und sahen der Sonne beim Aufgehen zu. Das war meine Initiationserfahrung.“
Viele Jahre sind vergangen. Doch Christiane Groß hat immer noch die Sonne Singapurs vor Augen. Sie übt weiter und weist anderen den Weg zum „inneren Lächeln“. Und wer mit Tai Chi wirklich nichts anfangen kann, für den gibt es im Vereinhaus noch eine Alternative. Vielleicht versuche ich es nächstes Mal mit „Yoga und Kneipp“. tsc
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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