Stadtspaziergang
Lichterfelde Ost entwickelte sich ab 1865 zu einem wahren Luxusquartier
Zu meiner 219. monatlichen Tour lade ich Sie in den Südwesten Berlins ein, weit draußen in die Villenkolonie Lichterfelde-Ost ein. Aber keine Angst, die Verbindungen dorthin sind erstaunlich flott.
Das ist kein Wunder, wenn man weiß, dass einst exakt hier Stück für Stück das Berliner Tempo erfunden worden ist. Dabei lässt sich der Spaziergang vom S-Bahnhof bis zum Teltowkanal, wo auch ein Denkmal des Flugpioniers Otto Lilienthal steht, ganz gemächlich an. Der Marienplatz liegt fast genau in der Mitte, ist übers Eck ins Straßenraster eingefügt – als grünes Quadrat. Es gibt in ganz Berlin nur diesen einen Marienplatz. So landet man schnell beim berühmten Münchner Marktplatz dieses Namens, Herz der Stadt seit Gründung Heinrichs des Löwen im 12. Jahrhundert.
Das wenige Jahrzehnte jüngere Lichterfelde war dagegen als Kolonisten-Angerdorf mit wenigen Höfen und Rittergut jahrhundertelang rein agrarisch geprägt, typisch für die märkische Umgebung Berlins. Doch davon blieben nur jenseits des Teltowkanals der Gutspark mit Carstenn-Schlösschen und die Feldsteinkirche mit Resten des Kirchhofs.
Es heißt, dass mit der Berliner Gasbeleuchtung auch die funzelnden, Gasaufsatzleuchten des Marienplatzes ins Weltkulturerbe kommen könnten. Sehr eilig ist das wohl nicht. Seinen Namen bekam das Platzkarree um 1870. Erst fünf Jahre zuvor hatte die rasante Entwicklung der Gegend begonnen, als der Holsteinisch-Hamburgische Unternehmer Johann Heinrich Carstenn als Terrain-Spekulant das Geschäft seines Lebens machte: Er erwarb die hochverschuldeten Rittergüter Lichterfelde, Giesensdorf und Wilmersdorf, plante überall auf dem riesigen Gebiet privat Straßen- wie Platzanlagen für eine ganze Reihe von Landhaus-Villenkolonien und verkaufte parzellierte Grundstücke an zahlungskräftige Interessenten. Als er jedoch dem Militärfiskus großzügig 20 Hektar für den Bau der Königlich Preußischen Hauptkadettenanstalt geschenkt hatte, durfte er sich als Dank des Kaisers 1873 mit dem Adelstitel eines Herrn von Lichterfelde schmücken, geriet aber im sogenannten Gründerkrach wegen diverser Auflagen zur Erschließung des Areals in die Pleite. Allerdings musste er nicht hungern und nicht in die Verbannung, bekam immerhin eine sehr standesgemäße Rente. Er starb 1896 in einer namhaften Schöneberger Anstalt für Nerven- und Geisteskranke. Da hatte ihm der Spottname „Napoleon der Spekulanten“ längst angehangen.
Fortan bewohnten sowohl wohlhabende Bürger als auch adlige Offiziere die neuen Ortsteile und freuten sich über ihre Häuser in gepflegter Wohngegend mit schon damals hochmoderner Anbindung an die Hauptstadt und ins Umland. Im Jahre 1868 hatte Carstenn den neuen Haltepunkt Lichterfelde der Berlin-Anhalter Bahn finanziert, der später mehrfach erweitert und umgebaut wurde, auch öfter seine Bezeichnung wechselte: etwa zu Groß-Lichterfelde, zuletzt Berlin-Lichterfelde Ost.
Der Jungfernstieg – parallel zur Eisenbahnstrecke – bekam seinen Hamburgischen Namen 1878, wie auch die nahe Boothstraße. Überall ringsum findet man denkmalsgeschützte Villen. John Cornelius Booth besaß bei Hamburg eine große Baumschule, war Geschäftsfreund und Berater von Carstenn, belieferte ihn im großen Stil mit Pflanzgut. Berliner Tempo: Im Auftrag von Carstenn baute Siemens 1881 dessen Meterspur-Materialbahnstrecke zur Kadettenanstalt für seine mit stromführenden Gleisen betriebene „Elektrische Eisenbahn“ um. Sie startete am 16. Mai 1881 als erste öffentliche „Elektrische“ der Welt, hieß bald Straßenbahn, wurde nach Beseitigung von Kinderkrankheiten um einige Strecken erweitert, immer wieder modernisiert, an den Landkreis Teltow veräußert, und nach einem halben Jahrhundert schließlich ins BVG-Netz übernommen.
In 17 Minuten nach Lichterfelde
Da wundert es nicht, dass schon 1903 der viel schnellere Versuchsbetrieb der ersten vollelektrischen Vorort-Vollbahn zwischen Berlins Potsdamer Ringbahnhof und Groß-Lichterfelde Ost der Königlich Preußischen Eisenbahnverwaltung mit großen leistungsfähigen Triebwagen und „von oben bestrichener“ Stromschiene begann. Weil er sich schnell bewährte, ging er alsbald in den Regelbetrieb. Die Fahrzeit zwischen den Endbahnhöfen war auf 17 Minuten festgelegt, bei maximal 50 Kilometer pro Stunde wurden durchschnittlich 32,8 Kilometer pro Stunde erreicht, in Stoßzeiten fuhren die Züge schon im Fünf-Minuten-Takt. 1929 ist die Strecke ins S-Bahn-System eingepasst worden.
Wussten Sie, dass am 27. Oktober 1903 im östlich benachbarten Marienfelde die noch nicht einmal in Stromlinienform gebaute elektrische „Lasche-Lok“ von AEG und Siemens & Halske auf der Militäreisenbahn Berlin-Marienfelde – Zossen einen Geschwindigkeitsrekord von 210,3 Kilometer pro Stunde erreichte?
In der Villa Jungfernstieg19, erbaut in den 1880er-Jahren, stiegen die Geschwindigkeiten im Jahre 1930 noch in ganz andere und deutlich sichtbare Dimensionen. Dem jungen Erfinder Manfred von Ardenne war hier in seinem Labor für Elektronenphysik die weltweit erste Fernsehübertragung mit der Braunschen Röhre gelungen, elektronische Bildzerlegung und -wiedergabe mit zeilenweiser Abtastung, die er zur Funkausstellung Berlin 1931 öffentlich vorführte. Baron von Ardenne hatte Anfang 1928 das Haus kurz vor seinem 21. Geburtstag gemietet, brauchte dazu noch die väterliche Unterschrift. Er kaufte es dann, wohnte und arbeitete dort bis 1945, bekam schon im Mai das nicht ablehnbare Angebot, in der Sowjetunion seine geheimen praktischen Forschungen zur Kernphysik im eigenen Institut fortzuführen. Ein Jahrzehnt lebte er dann mit seiner Familie im goldenen Käfig im georgischen Batumi, kam dann zurück, gründete am Dresdner Weißen Hirsch das größte private Forschungsinstitut der DDR. Er lebte von 1907 bis 1997, seine Erfindungen und Patente werden mit der Zahl 600 angegeben, darunter das Elektronenmikoskop und auch Mehrschritt-Therapien in der Medizin. Er konnte sich mit diversen Ehrungen, Berufungen und Titeln aus aller Welt schmücken.
Der Rundgang beginnt am Sonnabend, 16. März, um 11 Uhr. Treffpunkt ist der Bahnhof Lichterfelde Ost, Ausgang Jungfernstieg. Die Tour wiederhole ich am 23. März um 14 Uhr. Die Teilnahme kostet dann aber neun, ermäßigt sieben Euro. Anmeldung dafür unter Tel. 442 32 31.
Die Führung am 10. Februar ist für Leser der Berliner Woche und des Spandauer Volksblatts kostenlos. Allerdings ist eine Anmeldung erforderlich: Am Montag, 11. März, in der Zeit von 10 bis 12 Uhr anrufen unter Tel. 887 27 73 02.
Autor:Bernd S. Meyer aus Mitte |
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