„Wir sind zusammengerückt“
Evelin Neubert beherbergt ukrainische Geflüchtete
Eine ruhige Wohnstraße mitten im Mahlsdorfer Siedlungsgebiet. Die Tür zum Grundstück steht offen. Auf den Treppenstufen wartet eine schwarz-weiß-gescheckte Katze. Der Krieg in der Ukraine ist hier ganz weit weg, aber doch täglich präsent. Seit Mitte März leben hier Iryna (40), ihre Tochter Bohdana (17) und ihr Sohn Yehor (11).
Sie sind aus Kiew nach Berlin geflohen, während Irynas Ehemann in der Ukraine zurückbleiben musste. Ihr Bruder und ihr Cousin kämpfen an der Front, um ihre Heimat vor den Angriffen der russischen Armee zu verteidigen.
Evelin Neubert (64), die in diesem Drei-Familien-Haus mit ihren erwachsenen Töchtern (38 und 40) und vier Enkelkindern lebt, hat die drei bei sich aufgenommen. Dafür wurde eine der drei Wohnungen im Haus hergerichtet. „Wir sind zusammengerückt“, sagt sie. Die Entscheidung, Geflüchtete in den eigenen vier Wänden aufzunehmen, hätten sie alle zusammen getroffen. Sorgen gemacht habe sie sich lediglich, wie sie sich am besten gegenüber Menschen verhalte, die so schlimme Erlebnisse hinter sich haben, wie sie täglich in den Nachrichten zu sehen sind.
Seit Jahren schon arbeitet die Diplom-Medizinpädagogin im Ruhestand ehrenamtlich als Notfallseelsorgerin. Gemeinsam mit ihrer Enkeltochter, die die Integrierte Sekundarschule Mahlsdorf besucht und sich dort bei Hilfsaktionen engagiert hat, packte sie auch am Hauptbahnhof mit an. Dort nahmen sie die aus der Ukraine ankommenden Frauen und Kinder in Empfang und halfen ihnen weiter. Was sie dort sah, bestärkte sie darin, selbst Menschen aus der Ukraine privat aufzunehmen. Die Menschen seien ausgemergelt, müde und völlig erschöpft gewesen.
Evelin Neubert meldete sich daraufhin auf der Online-Plattform unterkunft-ukraine.de an. Weil sie dort aber auch nach einer Woche keine Anfrage erhielt, besuchte sie eine Infoveranstaltung im Stadtteilzentrum PestalozziTreff in Mahlsdorf. Dort bot sie ihr Haus als temporäre Unterkunft an und lernte Tetiana Goncharuk kennen. Die aus der Ukraine stammende Leiterin des Frauentreffs HellMa in Marzahn, der zu einem Anlaufpunkt für Geflüchtete geworden ist, meldete sich daraufhin wenig später bei ihr zurück. Sie begleitete Evelin Neubert auch zum Treffpunkt, um Iryna, Bohdana und Yehor abzuholen. Die 64-Jährige hielt sich an Goncharuks Rat, anfangs keine Fragen zu den Kriegserlebnissen zu stellen. Mittlerweile sei zwischen ihr und ihren Gästen jedoch eine Vertrauensbasis entstanden, sodass sie auch erfahren habe, wie es der Familie in ihrer Heimat ergangen ist.
Nach Ausbruch des Krieges sind die drei demnach zunächst noch in Kiew verblieben. Dann wurden sie an einem Tag während des Einkaufens Augenzeugen, wie ein Flugzeug eine Bombe auf ein Wohnhaus abwarf und anschließend abstürzte. Sie sahen, wie Menschen weinend und blutend auf der Straße herumliefen. Daraufhin packten sie ihre Sachen und flüchteten aus der Stadt. Drei Tage brauchten sie, um durch die Ukraine und durch Polen bis nach Berlin zu fahren. Nur eine Reisetasche hatten sie dabei. Wegen überfüllter Züge mussten sie unterwegs auf Bahnhöfen schlafen.
Als Evelin Neubert die drei das erste Mal sah, habe sie sich ein wenig erschreckt. Iryna habe nur geweint, ihre Kinder hätten ins Leere gestarrt. Inzwischen gehe es ihnen wieder gut. Doch die Sehnsucht nach der Heimat und die Sorge um die Familienmitglieder, die noch in der Ukraine sind, bleiben. So oft es geht, werden Fotos in die Heimat geschickt und Telefonate geführt. Iryna spricht zwar kein Englisch, doch ihre Dankbarkeit für die Gastfreundschaft ist ihr anzusehen. Sie seien froh, hier in Sicherheit zu sein, übersetzt ihre 17-jährige Tochter. Bohdana zeigt auf ihrem Handy ein Foto von ihrem Hund, ein junger Chihuahua, den sie alle vermissen. Er ist bei Irynas Mann in der Heimat geblieben.
In den ersten Wochen in Berlin musste Iryna mit ihren Kindern viele Behördengänge erledigen. Bei Besuchen in Museen und im Tierpark konnten sie zwischendurch aber auch mal auf andere Gedanken kommen. Jetzt geht es darum, dass ihre Tochter und ihr Sohn wieder in die Schule gehen können. Die 17-jährige Bohdana stand in der Ukraine bereits kurz vor dem Schulabschluss und will studieren.
Nach sechs Wochen des Zusammenlebens sagt Evelin Neubert: „Sie sind für uns keine Flüchtlinge mehr.“ Die beiden Familien aus Kiew und Mahlsdorf haben sich aneinander gewöhnt. Es wird abwechselnd gekocht und gemeinsam gegessen. Zu Ostern saßen alle zusammen, spielten „Mensch ärgere Dich nicht“ und hatten Spaß. Wie lange die Wohnsituation so bleiben wird, weiß Evelin Neubert noch nicht. Mindestens aber ein halbes Jahr.
Autor:Philipp Hartmann aus Köpenick |
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