Bedrückender Einblick
Berliner Unterwelten zeigen erstmals originalen Fluchttunnel an der Bernauer Straße
Der Verein Berliner Unterwelten hat nach jahrelanger Planung einen originalen Fluchttunnel unter der Bernauer Straße „angegraben“. Ab 10. November können Besucher über einen extra gebauten Besuchertunnel zur Erdröhre kommen und einen Blick in das bedrückende Bauwerk werfen.
Sie haben ihr Leben riskiert, monatelang geschuftet und alles auf eine Karte gesetzt: die Fluchthelfer und Tunnelbauer, die sich unter den schwer bewachten Grenzanlagen des Mauerregimes gegraben haben, um ihre Familien und Freunde aus der DDR zu holen. Nach dem Bau der Mauer 1961 gab es insgesamt 75 Tunnelprojekte in Berlin. Nur 19 waren erfolgreich. Die meisten Fluchttunnel wurden verraten, von der Stasi aufgespürt und zerstört oder Grenzer lauerten den Helfern auf und eröffneten das Feuer. Unter der Bernauer Straße gab es elf Tunnel, darunter der berühmte Tunnel 29, dessen Geschichte verfilmt wurde.
Der Verein Berliner Unterwelten gewährt nun erstmals einen Einblick in einen Fluchttunnel, über den nie ein Mensch gerettet werden konnte. Hasso-Herschel-Tunnel hat Unterwelten-Chef Dietmar Arnold den Tunnel genannt – zu Ehren des Fluchthelfers Hasso Herschel, der auch beim benachbarten Tunnel 29 mitgebaut hat. Im Winter 1970 begann Herschels Team im Keller des Hauses Brunnenstraße 137 auf Westberliner Seite an der Kreuzung Bernauer Straße mit dem Tunnelbau. Das Eckhaus stand auf der Abrissliste und war bereits fast leergezogen; heute steht dort ein Neubau mit einem Bäcker im Erdgeschoss. Neun Wochen lang hat Herschels Team den 110 Meter langen Tunnel gebuddelt, den Abraum beschwerlich mit Metallwannen rausgezogen. Ziel war der Keller in der Brunnenstraße 142, das zweite Gebäude hinter dem Grenzstreifen. „Es fehlten nur noch drei Meter“, sagt Dietmar Arnold. Die Grenzer hatten längst Wind bekommen von den Maulwürfen und den Aktivitäten im Untergrund. Die Mikros ihres Tunnelortungssystems hatten die Buddelgeräusche registriert. Kurz vor Bauende fuhren Bagger auf den Grenzstreifen und zerstörten das Bauwerk. Die Stasi hatte sich einen Spaß draus gemacht, die Fluchthelfer bis zum Schluss schuften zu lassen und kurz vorm Ende zuzuschlagen.
Sieben Jahre Planung
Der Verein Berliner Unterwelten ist schon seit 2011 Mieter in den Erdgeschossen der ehemaligen Oswald-Berliner-Brauerei in der Brunnenstraße, die bereits 1918 stillgelegt wurde. Die tiefliegenden Gewölbe hatte das DDR-Grenzregime mit dem Mauerbau komplett mit Schutt verfüllt. Die Unterwelten-Forscher haben über drei Jahre gebraucht, um den Schutt zu entfernen und die Räume für Ausstellungszwecke nutzbar zu machen. In der Brunnenstraße 143 zeigt der Verein seit Jahren Tunnelmodelle. Von der sogenannten Gewölbetonne Drei führt jetzt ein Besuchertunnel zum originalen Fluchttunnel des Teams um Hasso Herschel.
Schon vor sieben Jahren begannen die Planungen, den Herschel-Tunnel von den Brauereikellern aus „anzugraben“. Zwei Jahre lang haben die Bauleute Andreas Witkoski und Mario Mike für den Unterwelten-Verein in über fünf Metern Tiefe die Röhre gegraben. Per Hand und mit Stemmhammer wurde der feste Mergel herausgebrochen. In großen Arbeitseinsätzen haben teilweise bis zu 25 Vereinsmitglieder pro Tag den Schutt rausgeholt.
Über 334 Tonnen Mergelschutt mussten über winzige Öffnungen im Brauereigewölbe nach oben gezogen werden. Durch diese Löcher, über die früher Eisblöcke in die Bierkeller befördert wurden, mussten auch die Betonelemente. Ein Werk in Nassenheide hat die insgesamt 420 Stahlbetonsegmente für den Besuchertunnel extra so gebaut, dass sie durch passen.
"Ich war froh, als ich wieder raus war"
Exakt 27,30 Meter ist der Besuchertunnel lang. An der Stelle, wo der Besuchertunnel den echten Fluchttunnel kreuzt, war der Fluchttunnel jedoch eingestürzt. Das konnten die Maulwürfe vom Unterwelten-Verein nicht wissen. Deshalb mussten kleine Seitenstollen gebaut werden, die links und rechts zu den intakten Abschnitten führen. Die Besucher können über diese archäologischen Fenster, wie Dietmar Arnold es nennt, erstmals einen Blick in einen echten Fluchttunnel werfen. Arnold als Chef und Gründer der Berliner Maulwürfe ist in die nicht einmal einen Meter hohe Erdröhre gekrochen. Man kann noch 25 Meter Richtung Bernauer Straße krabbeln – bis zu der von den Grenzern zerstörten Stelle. „Ich war froh, als ich wieder raus war“, beschreibt er das „mulmige Gefühl“. Einen Eindruck von der Todesangst, die DDR-Flüchtlinge überwinden mussten, wenn sie durch die engen Tunnel Richtung Westen robbten, bekommt man auch schon beim Blick hinein.
Der erste Besuchertunnel zu einem originalen Fluchttunnel wird 30 Jahre nach dem Fall der Mauer am 7. November durch Dietmar Arnold, Vorsitzender der Berliner Unterwelten, und dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) im Beisein vieler weiterer Gäste wie Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Berliner Mauer, und dem Fluchttunnelbauer Ulrich Pfeifer eröffnet. Ab 10. November ist der Tunnel im Rahmen der Tour M „Unterirdisch in die Freiheit“ für Besucher geöffnet.
Weitere Informationen unter www.berliner-unterwelten.de
Autor:Dirk Jericho aus Mitte |
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