Lehrermangel oder nicht?
Senatorin gibt Lehrkräfteausstattung mit über 99 Prozent an - Gewerkschaften sprechen von „Schönreden“ und „Scheinstatistik“

Die Corona-Pandemie hat die Situation an Schulen angesichts des Lehrermangels und desolater Schulgebäude weiter verschärft. | Foto: pixabay.com
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  • hochgeladen von Hendrik Stein

Seit Jahren fehlen an Berliner Schulen ausgebildete Lehrer. Und die Situation an den knapp 700 öffentlichen Schulen ist durch die Corona-Krise nicht besser geworden.

Malgorzata Wlodarska will nicht meckern. An der Papageno-Schule in Mitte läuft es ganz gut. „Wir sind gut ausgestattet und keine Kollegen sind als Corona-Risikogruppe zu Hause“, so die Schulleiterin. Ihre Grundschule liegt laut Datenrecherche des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv zwar leicht unter dem Versorgungsgrad von 100 Prozent, aber an anderen Schulen sieht es schlechter aus. Die Bildungsverwaltung von Senatorin Sandra Scheeres (SPD) gibt die Lehrerausstattung berlinweit durchschnittlich mit 99,4 Prozent an. Die von Gewerkschaften wie dem Verband Bildung und Erziehung (VBE) geforderte zehnprozentige Vertretungsreserve im Lehrer- und Erzieherbereich gibt es in Berlin nicht. Wenn Lehrkräfte wegen Krankheit ausfallen, fällt schnell auch mal Unterricht aus. Die Schulen haben für solche Fälle ein kleines Budget für Vertretungen, die sie einstellen können.

Über 33 000 Lehrkräfte unterrichten in Berlin. Und es werden immer mehr benötigt. Die Schülerzahlen steigen und haben im laufenden Schuljahr 2020/2021 mit insgesamt 331 049 einen Höchstwert erreicht. Der Senat hat in diesem Sommer 2700 neue Lehrkräfte eingestellt. Allerdings sind darunter 792 Quereinsteiger und 98 sonstige Lehrkräfte, also Seiteneinsteiger ohne volle Lehrbefähigung, wie Scheeres‘ Sprecher Martin Klesmann bestätigt. Weil Bewerbungen von studierten Lehrern fehlen, werden immer mehr Leute eingestellt, die etwas anderes als Lehramt studiert haben. Bei den Quereinsteigern sind das zum Beispiel Journalisten, Germanisten, Künstler oder Mathematiker, die mindestens ein Fach wie zum Beispiel Mathe oder Deutsch studiert haben. Die werden parallel zum Schuleinsatz pädagogisch und fachdidaktisch geschult und und müssen dann die zweite Staatsprüfung bestehen, um richtiger Lehrer zu sein.

Pädagogische Qualifizierung von Seiteneinsteigern

Tom Erdmann spricht angesichts des „eklatanten Lehrermangels“ von „Schönreden“, wenn die Senatorin sagt, dass keine Lehrkräfte fehlen, um die Stundentafel abzubilden. Für den Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind das „auf dem Papier vielleicht genügend Menschen, die eingestellt werden, aber keine ausgebildeten Lehrkräfte“. Er fordert die pädagogische Qualifizierung auch von Seiteneinsteigern. Sie werden bisher, weil sie kein Fach der Berliner Schule studiert haben, nur befristet eingestellt.

In Berlin ist die Situation an den Schulen sehr unterschiedlich. Der Versorgungsgrad liegt bisweilen auch unter 90 Prozent. Es gibt Schulen wie die Sonnen-Grundschule in Neukölln, an denen sich seit Jahren kein einziger ausgebildeter Lehrer mehr beworben hat. Dort übernehmen Seiteneinsteiger sogar den Job des Klassenlehrers. Erdmann fordert, dass der Senat die Verteilung der Lehrer zentral steuert. Zudem müssten die Schulen attraktiver werden, damit sich Lehrer bewerben.

Für VBE-Landeschefin Heidrun Quandt sind die Lehrerzahlen der Bildungsverwaltung lediglich eine „Scheinstatistik“. Insbesondere an Grundschulen fehlten immer mehr ausgebildete Lehrer. Quandt unterrichtet mit 65 Jahren noch an der Oskar-Heinroth-Grundschule in Neukölln. Sie steht weiterhin vor der Klasse, obwohl sie zur Corona-Risikogruppe gehört. Weil ihr der Job Spaß macht, geht sie nicht in Pension und hat erstmal um ein Jahr verlängert. Auch mit dem Angebot an Pensionäre kämpft der Senat gegen den Mangel.

Mehr Absolventen gebraucht

Berlin ist das einzige Bundesland, das keine Lehrer verbeamtet. Auch deshalb gehen Absolventen in andere Bundesländer. Rund 450 Lehrer sollen 2020 laut Tagesspiegel gekündigt haben, um in andere Bundesländer zu wechseln, wo verbeamtet wird. Für mehr Absolventen werden die Kapazitäten an den Hochschulen hochgefahren. Laut Tom Erdmann sollen ab 2020 etwa 2500 Lehrkräfte ausgebildet werden.

Um die Probleme in den Schulen zu lösen, sollte der Senat auch verstärkt Lehramtsstudenten in die Schulen holen, sagt Norman Heise, Vorsitzender des Landeselternausschusses (LAE). Er begrüßt zudem den Verstärkungspool, den der Senat derzeit aufbaut. 130 Lehrer und 60 Erzieher sollen befristet eingestellt werden, auch um die Corona-Ausfälle auszugleichen. Derzeit laufen die Einstellungsverfahren. Heise will, dass die Stellen unbefristet sind, „weil wir die auch später brauchen“. Derzeit werden etwa drei Prozent der Lehrer coronabedingt nicht im Präsenzunterricht eingesetzt. Wie Martin Klesmann sagt, sind zwei Prozent im Homeoffice; ein Prozent wird anderweitig eingesetzt zum Beispiel für die Betreuung kranker Schüler, das Erstellen von Unterrichtsmaterial oder die Stundenplangestaltung.

Die Datenbank des Recherchezentrums Correctiv zur Lehrerausstattung der Berliner Schulen und Bezirke findet sich im Internet auf https://bwurl.de/15rt.

Autor:

Dirk Jericho aus Mitte

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