Mitternachtskino in Mitte
Phantom
Mitternachtskino im Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz
Mitternachtskino im Babylon: "Null Uhr, null Euro." Diesem Motto kann nur widerstehen, wer nachtschläfrig ist, oder großstadtmüde, oder beides. Aber glauben Sie: Wie sollte man einen Sonntag besser beginnen als mit einem "Murnau" aus den 20-ern? Ich kann mir nach diesem Erlebnis nichts Besseres vorstellen.
Friedrich Wilhelm Murnaus Film "Phantom" (1922) nach einer Erzählung von Gerhart Hauptmann steht auf dem Programm. Das Babylon-Kino am Rosa-Luxemburg-Platz ist zu vier Fünfteln und damit für diese Nachtzeit gut gefüllt. Ein ebenfalls zu vier Fünfteln gefülltes Glas Rotwein begleitet die samtene Schwere, mit der man in den schönen alten Kinositz sinkt. Auf einem zwischen den Sitzen montierten Brettchen kann man das Weinglas abstellen.
Die Vorstellung beginnt. Hier gibt es sogar zu später Stunde eine persönliche Begrüßung in Form einer kurzen Ansprache, in der die Vorzüge des bald 90-jährigen Traditionshauses im Scheunenviertel hervorgehoben werden: Original Stummfilm-4:3-Leinwand im Goldrahmen und Live-Musikbegleitung an einer Original-Multiplex-Kinoorgel. Auch die Hinweis auf die Sammelbüchse am Ausgang darf nicht fehlen, ein freiwilliger Obolus wird erbeten. Dann geht es los.
The author is present
Die erste Irritation: Gerhart Hauptmann posierte damals vor der Kamera. Mit einem Buch in der Hand, das wie ein symbolisches Attribut eines heiligen Autors wirkt.
Der Stummfilm bietet ein Erlebnis der besonderen Art. In der heutigen Zeit wirkt der Fortgang der Handlung etwas schwergängig. Der Plot ist recht simpel. Ein aus kleinen Verhältnissen stammender, bescheidener, junger kaufmännischer Angestellter, der als passionierter Buchliebhaber erste Schreibversuche unternimmt, die dem Anschein nach vielversprechend sind und das Gefallen einer älteren Gönnerin finden, lässt sich von einem Gaunerpärchen zu Betrug und Verbrechen anstiften. Er verbüßt eine Gefängnisstrafe und erhält eine zweite Chance: ein neues Leben an der Seite der Frau, die ihn wahrhaftig liebt und nicht nur ein unerreichbares Phantom darstellt. Happy End!
Schwarz-weiß ist bunt
Wer bis dato glaubte, Schwarz-Weiß-Filme seien schwarz-weiß, wird eines besseren belehrt. Eine wechselnde duochrome Farbgestaltung spiegelt das Seelenleben der Protagonisten. Ganz am Ende altrosa für die glückliche Kirschblüten-Zweisamkeit der beiden Helden. Das wirkt zusätzlich verfremdend.
Überhaupt spannend, wie entrückt die Handlung ob der naturalistischen Grundauffassung des Autors der literarischen Vorlage wirkt. Die Darstellung der Stadtszenen wirkt eher expressionistisch denn naturalistisch gestaltet. "Natur plus x" ... ein großes X. Und ein X, das den Film cool wirken lässt.
Multiplex-Orgel gibt Tiefe
Und dann die Musik von Anna Vavilkina auf der historischen Multiplex-Orgel: Vollendung der Synästhesie. Die Organistin greift in die Tasten, während sie das Geschehen auf der Leinwand verfolgt. Faszinierend, wie sie die Wellen des Films in der Musik aufnimmt. Die Leinwand saugt, die Orgel bläst. Und mittendrin schwimmt der Zuschauer, zwischen Skylla und Charybdis.
Der Film ist glücklich zu Ende gegangen. All diejenigen, die so lange durchgehalten haben, wanken Richtung Ausgang und dann durch das nächtliche Berlin. Mir ist klar: Ich muss wieder hin zu "Null Uhr, null Euro". Ist vom Besten, das die Hauptstadt zu bieten hat.
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Autor:Dino DeMonti aus Reinickendorf |
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