Der Not ein Gesicht geben
Die Bloggerin Sandy Bossier-Steuerwald porträtierte bereits 14 Ukrainerinnen
Auf dem Blog „Frauen auf der Flucht“ erzählen ukrainische Frauen von ihren Erlebnissen, Gefühlen und Ängsten. Die Journalistin Sandy Bossier-Steuerwald gibt mit ihrem „Herzensprojekt“ den Gestrandeten eine Stimme.
Es war das fünfte lange Gespräch mit einer vor dem Krieg geflohenen Ukrainerin, das Sandy Bossier-Steuerwald via Zoom geführt hat. Tatjana, die über Berlin nach Amsterdam gegangen ist, läuft jeden Tag einen Halbmarathon mit der ukrainischen Fahne auf dem Rücken, um mit dieser Wohltätigkeitsaktion Spenden zu sammeln. Das tue sie, „bis der Krieg vorbei ist“, wird die 37-jährige Sportlerin in dem Blog zitiert.
Laufende Ideengeberin
„Mir kam die Läuferin mit der Flagge bekannt vor“, sagt Sandy Bossier-Steuerwald. Denn schon kurz nach Ausbruch des Krieges sei ihr am Schlachtensee eine Läuferin mit Ukraine-Flagge aufgefallen. „Dadurch bin ich damals auf die Idee gekommen, einen Blog mit Porträts von Ukrainerinnen zu machen“, erzählt die Journalistin aus Kleinmachnow. Wie sich herausstellte, war ihre Interviewpartnerin Tatjana tatsächlich die Frau, die sie vor über 100 Tagen gesehen hatte und die sie auf die Idee mit dem Flüchtlings-Blog brachte.
„Ich wollte irgendwie helfen, auch was tun“, sagt Sandy Bossier-Steuerwald zu ihrem „Herzensprojekt“. Mittlerweile hat sie – teilweise stundenlang – mit 14 geflüchteten Frauen gesprochen, die in sieben Ländern gestrandet sind. Die Interviews seien Zeitzeugengespräche, die den Frauen „ein Gesicht geben“, so die 44-Jährige. Das Reden über das Erlebte, über Ängste und Sorgen ist für die Menschen auch eine Art Therapie. Bossier-Steuerwald hört zu und bereitet dann die Geschichten auf. „Die Frauen fühlen sich gesehen und sind dankbar“, so die Bloggerin, die das Projekt ehrenamtlich macht.
Angst, Wut und Schuldgefühle
Die Geschichten, die die Frauen erzählen, handeln von der Angst vor den russischen Bombern, die über Flüchtlingskolonnen donnern, von den Nächten im Kiewer U-Bahnschacht oder auch von Wut und den Schuldgefühlen, die Heimat verlassen zu haben. „Mein größter Wunsch ist es, meine siebenjährige Tochter Ana wiederzusehen“, sagt zum Beispiel eine 39-jährige Mutter aus Kiew, die auf der Flucht mit ihrem Sohn ihr behindertes Kind bei den Eltern lassen musste. Um ihre Identität nicht zu verraten, hat Sandy Bossier-Steuerwald nur die Hände der Frau auf dem Tisch im Café fotografiert, in dem sie das Interview geführt hat. „Sie hat total gezittert“, sagt die Journalistin über das zutiefst berührende Gespräch. Tiefgehende Emotionen sind bei den Treffen immer mit dabei. „In jedem Interview hat bis jetzt einer von beiden oder wir beide geweint.“
Sandy Bossier-Steuerwald hat Erfahrungen mit solch intensiven Zeitzeugenporträts. Für ihre Magisterarbeit „Politische Verfolgung in der DDR“ hat sie bereits tiefenbiografische Interviews mit ehemaligen Häftlingen aus dem Hohenschönhausener Stasiknast geführt. Das Projekt „Frauen auf der Flucht“ ist auch irgendwie ein passender Baustein in ihrer eigenen Biografie. Sie selbst musste als Zweijährige ihre Heimat in Pankow verlassen. Ihre Eltern, beide politische Häftlinge, die wegen Fluchtplänen im DDR-Gefängnis saßen, wurden 1980 vom Westen freigekauft. Dem Bruder von Sandy Bossier-Steuerwalds Mutter ist die Flucht im Kofferraum geglückt. Ihr Vater hingegen wurde vom eigenen Vater, einem hochrangigen Stasioffizier, verraten. Ihren 96-jährigen Opa hätte Sandy Bossier-Steuerwald auch gerne auf ihrer Gesprächscouch. Aber das ist eine andere Geschichte.
Für ihren Blog „Frauen auf der Flucht“ freut sich die Journalistin über neue Leser, Kooperationspartner, Unterstützer und natürlich weitere Gesprächspartnerinnen aus der Ukraine. Geplant ist auch, die Porträts als Podcast zu produzieren.
Folgen kann man der engagierten Journalistin auf frauenaufderflucht.de, instagram.com/frauenaufderflucht und twitter.com/FluchtFrauen.
Autor:Dirk Jericho aus Mitte |
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