Rio braucht eine Impfung und Amigo hat Stress
Jeanette Klemmt ist der "HundeDoc" und behandelt Tiere von Straßenkids
Ein umgebauter Rettungswagen parkt vor der St. Marien-Kirche am Alexanderplatz. „HundeDoc“ steht auf seinen Türen. Drinnen behandelt Jeanette Klemmt die Tiere von Straßenkids.
Nervös rutscht Rio auf dem Behandlungstisch herum, während Jeanette Klemmt die Spritze aufzieht. „Halt' ihn fest, er will flüchten.“ Justine schlingt die Arme um ihren wuscheligen Liebling. Dann ist es auch schon überstanden und Rio gegen Tollwut geimpft. Der junge Rüde ist heute der erste Patient von Jeanette Klemmt. Sie ist Tierärztin, mit einer Praxis auf vier Rädern. „HundeDoc“ steht auf den Türen des umgebauten Rettungswagens. Es ist "HundeDoc"-Sprechstunde.
Jeanette Klemmt behandelt ausschließlich die Tiere obdachloser Jugendlicher und junger Erwachsener, die mittellos sind. Oft geht es um Routinebehandlungen wie Impfungen oder Parasitenentfernung. „Aber auch Bissverletzungen, Schnittwunden, Kastrationen und antiparasitäre Zahnbehandlungen sind dabei“, sagt Jeanette Klemmt und fegt die Hundehaare vom Behandlungstisch. Für den nächsten Patienten muss alles sauber sein. Schwere Fälle übernimmt die Tierärztin nicht. „Dafür ist der Wagen nicht ausgerüstet“, sagt Klemmt. Die Straßenkids schickt sie dann in andere Praxen, die „auch mal ein Auge zudrücken“.
Die Liebe zum Tier verbindet
Seit fast 21 Jahren behandelt Jeanette Klemmt in ihrer Praxis kostenlos. Vier Mal pro Woche ist sie an verschiedenen Standorten Berlins unterwegs. An diesem Freitag steht sie vor der St. Marien-Kirche am Alex. Dort ist an diesem Tag auch die Kontakt- und Beratungsstelle KuB mit einem Streetwork-Mobil vor Ort. Was kein Zufall ist, denn der Tierarzt-Dienst ist an die Sozialarbeit angedockt. Den dürfen nur Jugendliche in Anspruch nehmen, die sozialpädagogisch betreut werden. In Einrichtungen wie dem KuB aus Kreuzberg, dem Klik-Verein aus Mitte, dem Wagendorf Wuhlheide oder dem Karuna-Verein in Rummelsburg. Das erwartet der Projektträger des über Spenden finanzierten „HundeDocs“, die Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin (SPI). Wer nicht von einer der Organisationen kommt und vorher einen Termin bei ihr ausmacht, dessen Vierbeiner darf Jeanette Klemmt nicht behandeln. „Damit sich nicht die falschen Leute meine Leistung erschnorren“, sagt die Veterinärmedizinerin. Ausgenommen sind Notfälle.
Während ihrer Untersuchungen erfährt Jeanette Klemmt von vielen Schicksalen. Darunter sind Jugendliche wie Flo und Justine, die ihre Wohnung verloren haben und auf der Straße leben. Menschen, denen nicht nur die Mittel fehlen, sondern auch ein stabiles soziales Umfeld. Straßenkids, von denen manche bereits früh eine Drogenkarriere hinter sich haben. Was Klemmt, die im beschaulichen Wilmersdorf aufgewachsen ist, mit ihnen gemein hat, ist die Liebe zum Tier. Die 53-Jährige hat selbst zwei Hunde und eine Katze. So findet sie meist schnellen Zugang zu ihren Klienten. Viele kennt sie bereits seit Jahren. Man duzt sich, der Umgangston ist höflich und respektvoll. Auch wenn Jeanette Klemmt manchmal strenge Worte sprechen muss. Wie zu Justine, die den Impfausweis von Rio vergessen hat. „Bring ihn mir das nächste Mal mit, vergiss' das bitte nicht“, mahnt sie die 19-Jährige. Das Projekt „HundeDoc“ soll auch ein Verantwortungsgefühl vermitteln. Klemmt ist nicht nur Tierärztin, sondern Seelsorgerin und Sozialarbeiterin für die meist jungen Leute. Darum bekam sie 2006 die Bundesverdienstmedaille.
Wertvolle Tipps für die Tierbesitzer
In ihrer anerkannten Anlaufstelle für Mensch und Tier in der Not teilt Jeanette Klemmt aber auch wertvolle Tipps an die Tierbesitzer aus. Erklärt ihnen, was für einen Hund sie da eigentlich haben und wie sie ihn erziehen. Pyrenäenhütehund Rio zum Beispiel zieht an der Leine. Die ersten Kommandos kann der Teenager zwar schon. „Die müssen aber ständig wiederholt werden. Und wenn er brav 'Sitz' macht, gib ihm ein Leckerli.“ Der zweite Patient an diesem Freitag ist Amigo. Sein Besitzer, ein junger Mann mit Rastalocken und Rucksack, braucht den Rat von Jeanette Klemmt. Der Spaniel frisst zu viel Gras und schnappt bei Fremden manchmal zu. Die Tierärztin hört sein Herz ab, tastet seine zittrigen Hinterbeine ab. Schnell steht fest: Amigo hat Stress, darum frisst er Gras, was auf Dauer seinen Magen übersäuert. „Der Hund ist ein einziges Nervenbündel, der muss runter von der Straße“, sagt Klemmt. „Du solltest dir ernsthaft überlegen, ob du ihn behalten willst.“ Dem jungen Mann gibt sie Säureblocker und einen bequemeren Maulkorb für Amigo mit. Auch Trockenfutter packt sie ein. Der junge Mann bedankt sich artig. Als er weg ist, wäscht sich Klemmt am Waschbecken die Hände und spricht anschließend in ihr Diktiergerät. So dokumentiert sie ihre Fälle.
Die Tierärztin mag ihre Arbeit in der rollenden Praxis. So sei sie unabhängig, ihr eigener Chef, sagt Klemmt. Ihr Gehalt, die Medikamente, medizinischen Geräte und Materialien werden über Spenden an die SPI finanziert. Auch der umgebaute Rettungswagen gehört dazu. Der ist mittlerweile ziemlich alt und hat so seine Startschwierigkeiten. Im Juni soll ein neuer kommen, komplett eingerichtet und mit Inhalationsnarkose. Damit Jeanette Klemmt nicht mehr spritzen muss, wenn sie beim nächsten Mal einen Hundezahn behandelt.
Kontakt für Spenden: www.stiftung-spi.de/hundedoc
Autor:Ulrike Kiefert aus Mitte |
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