Jobcenter haben Probleme mit Hartz-IV-Bescheiden
Auf dem Schreibtisch von Frank Steger stapeln sich Akten, Flyer und Plakatrollen. Doch der Geschäftsführer des Berliner Arbeitslosenzentrums (BALZ) scheint alles mühelos zu überblicken. Nacheinander zieht er aus den Stapeln Infografiken und Gesetzestexte, die belegen sollen, wie komplex die Rechtslage im Sozialgesetzbuch II (SGB II) ist, besser bekannt als Hartz IV.
"Für mich ist das Neusprech"
"Menschen, die arbeiten gehen, bekommen Arbeitslosengeld. Das Arbeitsamt heißt Jobcenter und die Leistungsempfänger sind Kunden. Für mich ist das Neusprech", sagt Steger und vergleicht die Begriffe rund um Hartz IV mit der Kunstsprache aus dem Roman "1984". Autor George Orwell wollte damals zeigen, wie einfach es für den Staat ist, politische Begriffe so zu verändern, dass sie ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren. "Hartz IV bildet die Realität nicht ab", kritisiert der 55-Jährige, der gemeinsam mit anderen Berliner Einrichtungen die Aktion "Irren ist amtlich - Beratung kann helfen" gestartet hat, um Hartz-IV-Empfänger über ihre Rechte aufzuklären.
"Die Einführung von Hartz IV war ein Schnellschuss, der ständig nachgebessert wird", bestätigt Andreas Peikert. Als Geschäftsführer des Jobcenters Charlottenburg-Wilmersdorf steht er zwar selbst in der Kritik der Aktion, doch auch er ist mit der Gesetzeslage nicht zufrieden. In einer Stadt wie Berlin mit so vielen Langzeitarbeitslosen seien Probleme programmiert, wenn man sich mit so einem "Massengesetz" auseinandersetzen muss.
Undurchschaubar und fehlerhaft
Hohe Mietkosten, undurchschaubare Einkommensanrechnungen und Fehler in den Hartz-IV-Bescheiden - das sind die häufigsten Probleme der Hilfesuchenden bei den Beratungsstellen. Auch in den Jobcentern sind sie bekannt. Sowohl Frank Steger als auch Andreas Peikert kämpfen Tag für Tag dagegen an - momentan sogar gemeinsam. Nachdem die Mitarbeiter von "Irren ist amtlich" von Juli bis September quer durch Berlin mit einem Infobus getourt sind, haben sie nun mit den Jobcenter-Leitern über die Probleme gesprochen. Dabei kamen auch krasse Einzelfälle auf den Tisch.
So wie der von Erika Planke (Name geändert). Schon vor Monaten hat ihr das Amt den Kostenzuschuss für Nahrungsmittel gestrichen, der ihr wegen einer Nierenerkrankung zusteht. Doch den Grund dafür erfuhr die 45-Jährige erst, als sie alle Anträge nochmals ausgefüllt, die ärztlichen Gutachten nochmals beschafft und alles mehrfach beim Jobcenter eingereicht hatte. "Immer wieder haben die mir gesagt, dass die Unterlagen nicht da sind", beklagt Planke. Auch am Telefon kam sie nicht weiter. So reihte sie sich wieder und wieder in die Schlange vor der Behörde ein. Dann erfuhr sie, dass ihr Antrag auf Frührente an allem schuld sein soll. Das Jobcenter sah die Rentenversicherung in der Pflicht und zahlte nur noch den Regelsatz. Doch da die Ärzte Erika Planke eine Arbeitsfähigkeit von drei Stunden bescheinigt haben, will sich auch die Versicherung nicht kümmern. "Ich weiß wirklich nicht, wie es jetzt weitergeht", sagt sie am Telefon und schluckt hörbar. "Dem Jobcenter habe ich gesagt, dass ich noch keine Rente bekomme, aber die überweisen trotzdem nur den Minimalbetrag."
Hinsehen, prüfen, neu berechnen
Noch heute wartet sie auf eine eindeutige Erklärung. Doch seit sich das BALZ eingeschaltet hat, gibt es Hoffnung. Das Jobcenter hat bestätigt, sich den Fall nochmals anzuschauen. Genauer hinsehen, noch mal überprüfen und neu berechnen - was in der Praxis nötig wäre, scheitert oft an Missverständnissen. Über eine halbe Million Berliner bekommen derzeit Arbeitslosengeld II und all diese Personen müssten sich eigentlich mit dem Paragrafenwerk - formuliert in feinstem Juristendeutsch - auskennen, wenn sie prüfen wollen, ob die ihnen zugeteilten Summen stimmen. "Es ist auch ein Kommunikationsproblem", sagt Frank Steger und schaut auf seinen Papierstapel. Nach jahrelanger Erfahrung kann er das Gesetz heute verstehen und erklären. Immer wieder werden er und seine Mitarbeiter deshalb zu "Hartz-IV-Dolmetschern". Die zentrale Forderung von "Irren ist amtlich" lautet deshalb, dass die Bescheide verständlicher formuliert werden müssen. Außerdem müssten die Jobcenter besser erreichbar sein und selbst besser über die geltenden Gesetze aufklären.
Oft nicht nachvollziehbar
Vor allem die Einkommensanrechnung bei jenen, die zwar einer Beschäftigung nachgehen, aber davon nicht leben können, sei oft nicht nachvollziehbar. In Berlin zählen derzeit 130 000 Personen zu diesen sogenannten Aufstockern.
Andreas Peikert ist trotzdem unsicher, ob ein Gesetz mit mehr pauschalen Festlegungen sinnvoller wäre. Obwohl weniger Paragrafen natürlich auch die Arbeit seiner Mitarbeiter einfacher machen würden. "Es geht nun mal um Menschen und die sind alle unterschiedlich", gibt er zu bedenken. Verbessern ließe sich die Situation aus seiner Sicht durch mehr fest angestelltes Personal. Momentan seien in Berlin besonders viele befristet Beschäftigte in den Jobcentern angestellt, die nicht so intensiv eingearbeitet werden können.
Zugeteilt werden die Stellen vom Bund. Und der ist auch dafür verantwortlich, dass die Gesetze immer wieder verändert werden, je nach aktueller politische Lage. Seit dem Start von Hartz IV 2005 bereits über 50-mal. Und so scheinen in diesen Fällen die Helfer in den Jobcentern selbst Hilfe zu benötigen. Der Appell der Hartz-IV-Experten Steger und Peikert, etwas zu ändern, geht deshalb an die Bundesregierung.
Hartz-IV-Gesetze zu kompliziert
Mehrheit hält Berliner Jobcenter für überfordert
Die umfangreichen Hartz-IV-Gesetze sorgen für Verwirrung. Mit dem Sozialgesetzbuch II, besser bekannt als Hartz IV, hat die Bundesregierung ein Gesetzespaket geschafften, das in der Praxis zu großen Problemen führt.
Unabhängige Stellen fangen in Berlin den hohen Beratungsaufwand ab, da auch die Jobcenter die Gesetze nicht immer verständlich erklären können. So antworteten 91 Prozent der Leser unserer Reportage aus der vergangenen Woche auf die Frage "Sind die Jobcenter in Berlin mit Hartz IV überfordert?" mit Ja. Nur neun Prozent teilen nicht diese Einschätzung.Zu diesen gehört Olaf Möller, Sprecher der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg von der Bundesagentur für Arbeit. Er erkennt zwar die Probleme, die das umfangreiche Gesetzespaket mit sich bringt und ist froh über die Unterstützung der Beratungsstellen. Dass die Jobcenter überfordert sind, weist er jedoch zurück. "Wir haben in den Jobcentern Mitarbeiter, die genau dafür da sind, Fragen und Probleme zu klären", sagt er.
Musterbescheid online
Die Bescheide seien oft so unverständlich, da alle Formulierungen rechtssicher sein müssen. "Das gibt uns das Gesetz so vor", sagt Möller. Dass dadurch viele Missverständnisse entstehen, hat nun aber auch die Arbeitsagentur erkannt. Sie stellt seit Kurzem im Internet einen interaktiven Musterbescheid mit Erklärungen bereit. Er ist unter www.arbeitsagentur.de erhältlich.
Nicht nur die Gesetze sind das Problem, sondern auch deren ständige Änderungen und die knappe Personalbesetzung in den Jobcentern mit vielen befristet Beschäftigten. So erreichte die Redaktion ein Leserbrief des ehemaligen Arbeitsagentur-Mitarbeiters Dieter Kunze. Mit über 50 Prozent befristet Angestellten könne keine ordentliche Arbeit abgeliefert werden, meint er. Mit seiner Kritik hat er sich auch an die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg gewendet und dort bestätigt bekommen, dass bei der Personalbemessung der Jobcenter Fehler gemacht wurden. "Warum die bis heute nicht korrigiert sind, blieb unbeantwortet", schreibt er. Ausbaden müssten dies die jetzigen Mitarbeiter der Jobcenter.
Seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze im Jahr 2005 steigt die Anzahl der eingereichten Klagen am Berliner Sozialgericht rasant an. Allein im vergangenen Jahr mussten die Richter nach Angaben der Aktion "Irren ist amtlich" in rund 31 000 Fällen Urteile über Ansprüche auf Arbeitslosengeld II und Kostenzuschüsse fällen. Über die Hälfte dieser Verfahren war für die Betroffenen erfolgreich. Um die mit der Klageflut zusammenhängenden Probleme zu bekämpfen, haben sich im Jahr 2007 mehrere soziale Einrichtungen zusammengeschlossen und "Irren ist amtlich" ins Leben gerufen. Dazu gehören das Berliner Arbeitslosenzentrum (BALZ) der evangelischen Kirchenkreise, die Liga der Wohlfahrtsverbände und der Deutsche Gewerkschaftsbund Bezirk Berlin-Brandenburg. Einmal im Jahr organisieren sie eine mehrwöchige Bustour durch die Berliner Bezirke. Gemeinsam wollen sie Arbeitsuchende über ihre Rechte und Pflichten aufklären und helfen, den hohen Informationsbedarf aufzufangen. Die Mitarbeiter der Beratungsstellen beantworten dabei kostenlos Fragen zum Arbeitslosengeld II, überprüfen Bescheide und geben Tipps.
In diesem Jahr zählten die Veranstalter dabei rund 2300 Beratungen, fast 48 pro Tag. Informationen zu den Beratungsangeboten gibt es unter www.beratung-kann-helfen.de.
Autor:Jana Tashina Wörrle aus Charlottenburg |
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