Seit zehn Jahren gibt es das Gesundheitszentrum für Obdachlose
Mitte. In der früheren Kita in der Pflugstraße 12 werden seit 2006 Obdachlose umfassend betreut. Mit der Eröffnung des Gesundheitszentrums für Obdachlose ist für die vielfach ausgezeichnete peruanische Ärztin Jenny De la Torre Castro „ein Traum in Erfüllung gegangen“.
Der dreigeschossige Backsteinbau ist heute ein gepflegtes Gebäude. Es gibt gut eingerichtete Behandlungszimmer mit Equipment wie Ultraschallgeräten, Augenarzt- oder Zahnarztstühlen. Die Hygienebedingungen sind fast ideal und viel besser als im Krankenhaus, lobt der ehrenamtliche Internist Fred Reiß. Im Garten können die Patienten ausspannen und sich danach in der gut gefüllten Kleiderkammer neue Klamotten geben lassen. Die Gerichte von Koch Heinz Schmidt schmecken gut und die Teller sind prall gefüllt; seine Kollegin in der Suppenküche Ute Poziemba reicht dazu Salate oder Dessert. Doch das Ärztehaus ist kein Sanatorium für Gutbetuchte; hier bekommen die medizinische und sonstige Hilfe, die auf der Straße leben, keine Krankenversicherung haben und oft nicht wissen, wie sie über die nächsten Tage kommen.
Ohne staatliche Hilfe
Ohne staatliche Unterstützung hat die Obdachlosenärztin Jenny De la Torre, die vor 22 Jahren als ABM-Kraft in einem zwölf Quadratmeter großen Behandlungszimmer im Ostbahnhof als Ärztin der Armen bekanntgeworden ist, hier ein Gesundheitszentrum für die aufgebaut, die gescheitert und tief gefallen sind. Immer mehr Menschen leben auf der Straße, haben Krätze, Läuse oder Flöhe. Bei Jenny De la Torre bekommen sie Salben, Cremes und Tabletten – und was das wichtigste ist: Balsam für die Seele. Im Gesundheitszentrum kümmert sich das Team ganzheitlich um die Menschen, damit sie einen Weg zurück in die Gesellschaft finden. Neben den zehn Ärzten, die hier ehrenamtlich arbeiten, bekommen sie Unterstützung von Sozialarbeitern oder Juristen, sogar eine Friseurin schnippelt ehrenamtlich die Haare. Insgesamt 37 Mitarbeiter – davon 27 ehrenamtlich – arbeiten im Gesundheitszentrum für Obdachlose.
Jenny De la Torre nimmt sich Zeit für ihre Patienten, hört zu, denn hinter den Krankheiten stecken meist viele Problemen. Ein Termin kann schon mal zwei Stunden dauern. Mehr als 20 Patienten schaffen die Ärzte deshalb nicht am Tag. Da kommt es auch schon mal vor, dass Patienten kommen, die gar nicht so hilfsbedürftig sind und von der ausgiebigen professionellen Sprechstunde gehört haben. Auch Studenten mit eigener Wohnung, die aber gerade keine Krankenversicherung haben, tauchen hier schon mal beim Zahnarzt auf. Das ist zwar so nicht gedacht, aber bevor Jenny De la Torre jemanden abweist, muss es schon triftige Gründe geben.
Motivation ist wichtig
Die ehrenamtliche Psychologin Ingrid Koschützki, seit 2008 im Team, versucht in den Gesprächen die Leute zu motivieren, sich wieder in das Leben zu integrieren. „Von alleine machen die das nicht“, so die frühere Ärztin im Gesundheitsamt Mitte. Der Service hier ist einfach zu verführerisch. Wer aber zu lange ohne spürbaren Fortschritt nur wegen Heinz Schmidts Kochkünsten kommt, wird auch schon mal abgewiesen, sagt Koschützki.
Zehn bis 15 Prozent ihrer Patienten schaffen es wieder ins normale Leben, finden Arbeit, heiraten. Jeder ist für Jenny De la Torre ein Erfolg. Das Obdachlosenzentrum finanziert sich ausschließlich über private Spenden und aus Mitteln der Jenny De la Torre-Stiftung, die die Obdachlosenärztin 2002 mit ihren 25 000 Euro Preisgeld für die „Goldene Henne“ gegründet hatte. Die Stiftung finanziert die zehn Angestellten und hat auch das alte Schulgebäude 2008 für 350 000 Euro vom Liegenschaftsfonds gekauft. Damit das Gesundheitszentrum für Obdachlose weiter existieren kann, werden ständig Spenden benötigt.
Gesundheitszentrum in Zahlen
In der Arztpraxis fanden in zehn Jahren 4.892 medizinische Erstkonsultationen und 21.659 Gesamtkonsultationen statt; 83 Prozent der Patienten waren Männer. Die Zahnarztpraxis mit zwei ehrenamtlichen Zahnärztinnen hat 1.618 Patienten behandelt. Bei der ehrenamtlichen Augenärztin waren 617 Menschen. Die zwei festangestellten Sozialarbeiter konnten allein 2015 ein Obdach für 50 Personen organisieren. Die Psychologin arbeitet seit 2008 und hat 248 Beratungen durchgeführt. Bei der Friseurin waren 4.225 Menschen. In der Suppenküche wurden bisher 28.046 Frühstücke und 51.832 Mittagessen ausgegeben. In der Kleiderkammer wurden 31.279 Kleidungsstücke, Schlaf- und Rucksäcke ausgeteilt. Das Gesundheitszentrum dient auch als Ausbildungsstätte. Bisher konnten 32 Schüler ein Sozialpraktikum absolvieren, 19 Berufsschüler ein Praktikum und 48 Medizinstudenten eine Famulatur. DJ
Autor:Dirk Jericho aus Mitte |
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