Verwahrloste Kinder: Jugendämter schlagen Alarm

Axel Biere und Steffen Seilert arbeiten beim Jugendamt Pankow und müssen immer wieder entscheiden, ob ein Kind in Obhut genommen werden soll. | Foto: Wörrle
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Berlin. Ende vergangenen Jahres schrieben die Berliner Jugendämter einen Brandbrief an den Senat, weil die Mitarbeiter überlastet sind. Denn seit die Öffentlichkeit sensibler mit dem Thema Kinderschutz umgeht, wird immer deutlicher, dass die Jugendämter zu wenig Personal haben.

Bis Bruno K. sechs Jahre alt war, lebte er in einer scheinbar normalen Familie. Dann trennten sich die Eltern, er zog zum Vater, doch der war überfordert, und als das Jugendamt den Jungen in einer verwahrlosten Wohnung auffand, kehrte Bruno zurück zur Mutter. Aber auch dort blieb er sich selbst überlassen. Er verbrachte mehr Zeit auf der Straße als zu Hause. Er lernte die falschen Leute kennen und hatte ständig Probleme mit der Polizei. An Schule oder geregelte Tagesabläufe war nicht zu denken. Als der Streit mit der Mutter zu heftig wurde, rief diese den Kindernotdienst. Doch die Vermittlungsversuche des Jugendamts scheiterten. Bruno musste in eine geschlossene Jugendhilfeeinrichtung.Der Fall Bruno K. ist real, aber er steht symbolisch für viele andere, um die sich die Berliner Jugendämter Tag für Tag kümmern. Anfang des Jahres häuften sich wieder die Schlagzeilen: "Verwahrloste Kinder gerettet", "Kein Bett und kein Essen, die Mutter betrunken", "Vierjähriger aus stinkender Wohnung geholt". Sie werfen Fragen auf. Wieso passiert so etwas immer wieder? Wer trägt Schuld?

Eltern tragen Verantwortung

"Es geht um Verantwortung, nicht um Schuld", sagt Axel Biere vom Regionalen Sozialpädagogischen Dienst beim Jugendamt in Pankow. Genauer gesagt geht es um ein fehlendes Verantwortungsbewusstsein der Eltern und die Frage, wie dieses wieder gestärkt werden kann. "Ja, einige der schlimmen Fälle betreffen Familien, die bereits vom Jugendamt betreut werden", sagt er. Doch trotzdem dürfe man nicht vergessen, dass in erster Linie die Eltern die Verantwortung für ihre Kinder tragen. "Es ist ein Drahtseilakt", meint der Sozialpädagoge. "Handeln wir zu schnell, ist es Kindesentziehung, aber wenn wir nur einen Augenblick zu lange warten, kann es schon zu spät sein." Wenn er sich morgens an seinen Schreibtisch setzt, liegen hier immer schon die neuen Kinderschutzmeldungen aus Pankow bereit, die über die Hotline und den Kindernotdienst eingegangen sind.

2011 registrierte die Berliner Polizei 580 Fälle von Verletzungen der Fürsorge- und Erziehungspflicht - 3,4 Prozent mehr als im Vorjahr. Dazu kamen 491 Fälle von Misshandlungen. Doch dieser Anstieg und die öffentliche Diskussion hatten Folgen. Sowohl die Behörden als auch die Bürger seien sensibler geworden, wenn es um den Kinderschutz geht, so Biere. Es werde genauer hingeschaut und schneller bei der Kinderschutzhotline 61 00 66 angerufen.

Bürgermeister blockieren

Aber genauer hinschauen und intensiver nachforschen kostet Zeit und mit den vorhandenen Mitarbeitern kann das immer schlechter geleistet werden. Ende 2012 haben die Jugendamtsdirektoren und die Vorsitzenden der Jugendhilfeausschüsse deshalb den Brandbrief an den Senat geschrieben. "So wie die Jugendämter im Moment ausgestattet sind, kann nicht das geleistet werden, was nötig wäre", sagt Steffen Seilert, der ebenfalls im Jugendamt Pankow arbeitet. Über den Personalbedarf bei den Jugendhilfeeinrichtungen hat er seine Masterarbeit geschrieben. Fazit: "Wir brauchen eine neue Grundlage, nach der die Mitarbeiterzahl bemessen wird", sagt er. Momentan werde diese allein nach der Haushaltslage der Bezirke bestimmt. Weder die Zahl der Familien noch die Bevölkerungsentwicklung oder die Wirtschaftslage der Einwohner haben Einfluss darauf. "Deshalb sind einige Bezirke sogar gezwungen, weiteres Personal einzusparen", erklärt Seilert.

Nicht beim Kinderschutz sparen

Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hat zwar ein neues Modell vorgeschlagen, wonach die Bezirke an feste Vorgaben gebunden wären und statt beim Kinderschutz an anderer Stelle sparen müssten. Doch bisher blockieren die Bezirksbürgermeister eine Neuregelung. Sie könnten dann nicht mehr selbst bestimmen, wie viel sie für den Kinderschutz ausgeben wollen. Die Blockade fällt zu Lasten der hilfebedürftigen Familien und der Mitarbeiter, die zum Beispiel in Pankow alleine bis zu 100 Fälle betreuen.

Sabine Bresche vom Kinderschutzbund Berlin schließt sich der Forderung nach mehr Personal an. Außerdem könne es beim Kinderschutz nicht nur darum gehen, dass das Jugendamt eingreift, wenn bereits etwas passiert ist. Vorbeugende Maßnahmen seien ebenso wichtig, betont sie.

Ob ein sehr frühes Eingreifen dafür gesorgt hätte, dass Bruno in einem richtigen Zuhause aufwächst, kann man nur mutmaßen. Inzwischen lebt er auf Weisung des Jugendgerichts in einer Einrichtung in Sachsen-Anhalt.

Mehr Personal für die Jugendämter

Kinderschutz ist Sache der Bezirke

Die Mehrheit der Teilnehmer an unserer Umfrage findet, dass die Jugendämter mehr Mitarbeiter bräuchten. "Das Umfrageergebnis zeigt deutlich, dass die Arbeit der Jugendämter von den Lesern mehrheitlich als wichtig und unverzichtbar für den Kinderschutz in unserer Stadt eingeschätzt wird", kommentiert Sandra Scheeres, Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft die Frage zur Reportage über die knappe Personalausstattung. Auf die Frage "Sollten Jugendämter mehr Mitarbeiter erhalten?" antworteten 90 Prozent mit Ja, zehn Prozent mit Nein. Doch Scheeres erklärt auch, dass die Senatsverwaltung selbst eine Aufstockung nicht in der Hand hat. Dafür seien die Bezirke verantwortlich. "Damit die Jugendämter ihre Aufgabe als sozialpädagogische Fachbehörde erfüllen können, habe ich den Bezirken ein Modell für eine leistungsgerechte Personalausstattung vorgeschlagen", erklärt die Bildungssenatorin und bezieht sich auf feste Vorgaben für die Fallzahlen, die ein einzelner Mitarbeiter betreut. Ziel sei, diese Zahlen zu reduzieren. Doch diesem Vorschlag konnte sich der Rat der Bürgermeister leider bislang nicht anschließen.

Wer ist wann zuständig?

Kinderschutz ist ein sensibles Thema. Bei vielen Menschen sind die Hemmungen groß, sich in die vermeintlich privaten Angelegenheiten anderer Familien einzumischen, wenn einem als Nachbar, Kollege oder Freund etwas Ungewöhnliches auffällt. Damit der Kinderschutz jedoch gut funktioniert, sind die Behörden auf genau solche Hinweise angewiesen. Die Zuständigkeiten dafür sind klar geregelt. Grundsätzlich haben die Jugendämter der jeweiligen Bezirke (je nach Wohnort der Eltern) von 8 bis 18 Uhr Bereitschaftsdienst und nehmen Anrufe entgegen. In der Nacht und an den Wochenenden ist der Kinder- und Jugendnotdienst zuständig. Um die Hürden für die Kontaktaufnahme möglichst gering zu halten, können Hinweise rund um die Uhr auch über die Berliner Kinderschutz-Hotline weitergegeben werden. Außerdem finden Familien mit Problemen hier Hilfe und Beratung. Die Hotline ist unter der Rufnummer 61 00 66 zu erreichen.

Seit Herbst vergangenen Jahres bekommen Anrufer dort auf Wunsch auch einen Ansprechpartner, der türkisch oder arabisch spricht. Russisch soll in diesem Jahr hinzukommen. Informationen dazu gibt es unter www.berliner-notdienst-kinderschutz.de sowie www.kinderschutznetzwerk-berlin.de.

Jana Tashina Wörrle / jtw
Axel Biere und Steffen Seilert arbeiten beim Jugendamt Pankow und müssen immer wieder entscheiden, ob ein Kind in Obhut genommen werden soll. | Foto: Wörrle
Hinweise können rund um die Uhr und anonym über die Berliner Kinderschutz-Hotline  61 00 66 weitergegeben werden.
Autor:

Jana Tashina Wörrle aus Charlottenburg

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