Jetzt erwachsen
Seit 18 Jahren wächst auf dem einstigen Todesstreifen an der Bernauer Straße Roggen

Zum 18. Mal wurde Ende Juli das Roggenfeld rund um die Kapelle der Versöhnung geerntet. | Foto:  Dirk Jericho
9Bilder
  • Zum 18. Mal wurde Ende Juli das Roggenfeld rund um die Kapelle der Versöhnung geerntet.
  • Foto: Dirk Jericho
  • hochgeladen von Dirk Jericho

Das 2000 Quadratmeter große Getreidefeld rund um die Kapelle der Versöhnung im früheren Grenzstreifen wurde vor 18 Jahren das erste Mal bestellt. Die Idee dazu hatte Bildhauer und Steinmetz Michael Spengler.

Es ist schon eine eigenartige Szenerie, die man jedes Jahr im Sommer in der Mauergedenkstätte erleben kann. Ein kleiner Parzellenmähdrescher kurvt um die Kapelle der Versöhnung, die auf den Fundamenten der vom DDR-Regime gesprengten Versöhnungskirche errichtet wurde, und erntet ein Roggenfeld. Touristen bleiben stehen und machen Fotos und wundern sich über die Großstadtbauern. Wenige Meter entfernt rattert die Tram auf der Bernauer Straße entlang. Ein Traktor rollt aufs geerntete Feld, um den Boden für die nächste Aussaat zu eggen. Der Acker sei wohl weltweit der einzige mitten in einem Stadtzentrum, sagt Pflanzenbauprofessor Frank Ellmer von der Humboldt-Universität (HU), der das Roggenfeld seit 2006 mit seinen Studenten betreut. Mittlerweile ist Ellmer im Ruhestand, engagiert sich aber weiter ehrenamtlich als Gastwissenschaftler am Thaer-Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften der HU und kümmert sich mit seinen Kollegen und Studenten um Aussaat, Pflege und Ernte.

Michael Spengler hatte die Idee zum Roggenfeld. In der Kapelle der Versöhnung ist eine Ausstellung zur Geschichte zu sehen. | Foto: Dirk Jericho
  • Michael Spengler hatte die Idee zum Roggenfeld. In der Kapelle der Versöhnung ist eine Ausstellung zur Geschichte zu sehen.
  • Foto: Dirk Jericho
  • hochgeladen von Dirk Jericho

Ellmer hatte 2006 auf seinem Weg zur Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der HU in Mitte das Roggenfeld gesehen und sich gewundert. Mit seinem Kollegen Wilfried Hübner bot er der Versöhnungsgemeinde Hilfe an. Seitdem nutzen die Studenten das Roggenfeld für ihre Forschungen, analysieren Bodenproben und berechnen Erträge. Jeden Sommer rücken die Versuchstechniker mit ihrem kleinen Parzellenmähdrescher zur Ernte an. Viel ist es nicht, ein paar Hundert Kilogramm, aber darum geht es auch nicht.

Wachsen, gedeihen, vergehen

Das Roggenfeld im einstigen Todesstreifen, wo jahrzehntelang DDR-Grenzsoldaten patrouillierten und Republikflüchtlinge erschossen wurden, ist ein Symbol. Das Kornfeld soll das Wachsen, Gedeihen und Vergehen darstellen. Die Körner werden in kleinen Säckchen gegen eine Spende in der Kapelle der Versöhnung verteilt oder zu Oblaten verarbeitet. Aus einem Teil der Roggenernte – gemischt mit Getreide aus elf Ländern Mittel- und Südosteuropas – wird seit Jahren ein paneuropäisches „Friedensbrot“ gebacken (friedensbrot.eu).

Immer bei der Ernte dabei: Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Berliner Mauer, und Professor Frank Ellmer (Bildmitte).  | Foto: Dirk Jericho
  • Immer bei der Ernte dabei: Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Berliner Mauer, und Professor Frank Ellmer (Bildmitte).
  • Foto: Dirk Jericho
  • hochgeladen von Dirk Jericho

Die Idee, ein Roggenfeld im Mauerstreifen anzulegen, stammt vom Bildhauer und Steinmetz Michael Spengler. Seine Werkstatt ist direkt neben dem Roggenfeld. Spengler erschafft individuelle Grabzeichen, die er immer gemeinsam mit den Angehörigen entwickelt. Er schlägt sozusagen das Leben der Verstorben in den Stein. Für ein Kunstprojekt im Rahmen des ökumenischen Kirchentages in Berlin 2003 hatte Spengler einen Mühlstein mit dem Goethe-Zitat „Stirb und werde“ erschaffen. Das „Lebenszeichen“ war für Ursula Schwarzer. Er hat es mit ihr gemeinsam erarbeitet. Die Idee war, dass das Lebenszeichen nach ihrem Tod zum Grabzeichen auf dem Friedhof wird. Nach Schwarzers Tod soll nur noch ihr Name dazu gemeißelt werden.

Der Künstler Michael Spengler hat in seiner "Galerie im Schneewittchensarg" Roggenkörner gekippt und zum 18-jährigen Jubiläum eine Ausstellung ausgehängt. | Foto: Dirk Jericho
  • Der Künstler Michael Spengler hat in seiner "Galerie im Schneewittchensarg" Roggenkörner gekippt und zum 18-jährigen Jubiläum eine Ausstellung ausgehängt.
  • Foto: Dirk Jericho
  • hochgeladen von Dirk Jericho

Der Mühlstein als „Lebenszeichen“ sollte eigentlich in Schwarzers Wohnung. Doch 400 Kilogramm in die dritte Etage in Prenzlauer Berg hieven wollte niemand. So blieb der rote Sandstein in Spenglers Werkstatt. Oben sitzt er gern abends mit einem Glas Rotwein auf dem Dach. Sein Blick fiel auf den Mühlstein mit der „Stirb und werde“-Inschrift und auf die Brache des einstigen Todesstreifens. „Wenn hier ein Korn wachsen würde, das wäre passend für den Ort, an dem jedwede Veränderung und Bewuchs verhindert worden ist und ein politischer Status für die Ewigkeit festgesetzt werden sollte“, erinnert sich Spengler an den Moment seines Einfalls.

Robuste Roggensamen

Der Kirchenrat der Versöhnungsgemeinde stimmte für Spenglers Roggenfeld-Idee. 2005 wurde das erste Saatgut, ein österreichischer Bergroggen, gesät. Mit einer im Baumarkt geliehenen Bodenfräse und Helfern der Gemeinde wurde der Boden vorbereitet. Der Landwirt Joachim Henke hat die erste Aussaat per Hand gemacht. Henke ist der Opa von Spenglers Söhnen und als früherer LPG-Chef in Mecklenburg-Vorpommern ein Ackerbauprofi. Die Idee seines damaligen Schwiegersohns fand er gut. Henke empfahl robusten Roggensamen für das unfruchtbare Land im Todesstreifen.

Mähdrescher in der Mauergedenkstätte. | Foto: Dirk Jericho
  • Mähdrescher in der Mauergedenkstätte.
  • Foto: Dirk Jericho
  • hochgeladen von Dirk Jericho

Der symbolträchtige Getreideacker ist mit der mittlerweile 18. Ernte Ende Juli sozusagen volljährig geworden. Viel Korn haben die Techniker der Humboldt-Uni nicht gedroschen. Der Ertrag war mäßig wie immer. „150 Kilogramm, 50 weniger als letztes Jahr“, sagt Michael Baumecker. Der Chef der Lehr- und Forschungsstation Freiland auf den Versuchsfeldern der HU in Thyrow lässt im August seine Leute stickstoffbindende Luzerne auf einem Teil des 2000 Quadratmeter großen Ackers säen, um die Bodenqualität zu verbessern. Das Roggenfeld wird in den kommenden Jahren also etwas kleiner sein und sich abwechselnd den Boden mit der insektenfreundliche Luzerne teilen. Die Hülsenfrucht blüht dreimal jährlich blau-violett und bringt mit Wildbienen das große Summen in die Gedenkstätte. Eine bunte Wiese voller Leben – auch ein schönes Zeichen an diesem Ort.

Autor:

Dirk Jericho aus Mitte

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

47 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Beitragsempfehlungen

BauenAnzeige
2024 war Richtfest für die Grundschule in der Elsenstraße. | Foto: SenBJF
7 Bilder

Berliner Schulbauoffensive 2016-2024
Erfolgsgeschichte für unsere Stadt

Die Berliner Schulbauoffensive ist nach wie vor eines der zentralen Projekte unserer Stadt. Mit aktuell mehr als 44.000 neu entstandenen Schulplätzen setzt die Offensive ihre Ziele erfolgreich um. So wurden von 2016 bis 2023 bereits 5 Milliarden Euro in moderne Bildung investiert. Auch in den kommenden Jahren wird das derzeit größte Investitionsvorhaben für Schulen fortgesetzt. Die Offensive geht weiter und führt zu einer dauerhaft verbesserten schulischen Umgebung für unsere Schülerinnen und...

  • Charlottenburg
  • 13.12.24
  • 799× gelesen
  • 1
WirtschaftAnzeige
Für weitere rund 180.000 Haushalte in Berlin baut die Telekom Glasfaserleitungen aus. | Foto: Telekom

Telekom baut Netz aus
Glasfaser-Internet hier im Bezirk

Ab Dezember starten die Arbeiten zum Ausbau des hochmodernen Glasfaser-Netzes in Borsigwalde, Friedenau, Frohnau, Hakenfelde, Lichtenrade, Lübars, Mariendorf, Neu-Tempelhof, Reinickendorf, Schöneberg, Spandau, Tegel, Waidmannslust, Wilhelmstadt und Wittenau. Damit können weitere rund 180.000 Haushalte und Unternehmen in Berlin einen direkten Glasfaser-Anschluss bis in die Wohn- oder Geschäftsräume erhalten. Die Verlegung der Anschlüsse wird im Auftrag der Telekom durchgeführt. Bis 2030 plant...

  • Borsigwalde
  • 11.12.24
  • 1.467× gelesen
WirtschaftAnzeige
Einstiegstüren machen Baden und Duschen komfortabler. | Foto: AdobeStock

GleichWerk GmbH
Seniorengerechte Bäder und Duschen

Seit März vergangenen Jahres ist die Firma GleichWerk GmbH in Kremmen der richtige Partner an Ihrer Seite, wenn es um den Innenausbau Ihres Hauses oder Ihrer Wohnung geht. Darüber hinaus bietet das Unternehmen auch seine Dienste für Hausverwaltungen an. Geschäftsführender Inhaber des Fachbetriebs ist Dennis Garte, der nach jahrelanger Berufserfahrung den Schritt in die Selbstständigkeit wagte, wobei er über ein großes Netzwerk an Kooperationspartnern sowie angesehenen Handwerksfirmen verfügt....

  • Umland Nord
  • 04.12.24
  • 1.131× gelesen
WirtschaftAnzeige
Für weitere rund 84.000 Haushalte in Berlin baut die Telekom Glasfaserleitungen aus. | Foto: Telekom

Telekom vernetzt
Glasfaser-Internet hier im Bezirk

Aktuell laufen die Arbeiten zum Ausbau des hochmodernen Glasfaser-Netzes in Berlin auf Hochtouren. Neue Arbeiten starten nun auch in Alt-Hohenschönhausen, Fennpfuhl, Friedrichsfelde, Friedrichshain, Karlshorst, Kreuzberg, Lichtenberg und Rummelsburg. Damit können nun rund 84.000 Haushalte und Unternehmen einen direkten Glasfaser-Anschluss bis in die Wohn- oder Geschäftsräume erhalten. Die Verlegung der Anschlüsse wird im Auftrag der Telekom durchgeführt. Bis 2023 plant die Telekom insgesamt...

  • Alt-Hohenschönhausen
  • 11.12.24
  • 1.554× gelesen
KulturAnzeige
Blick in die Ausstellung über den Palast der Republik. | Foto: David von Becker
2 Bilder

Geschichte zum Anfassen
Die Ausstellung "Hin und weg" im Humboldt Forum

Im Humboldt Forum wird seit Mai die Sonderausstellung „Hin und weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart“ gezeigt. Auf rund 1.300 Quadratmetern erwacht die Geschichte des berühmten Palastes der Republik zum Leben – von seiner Errichtung in den 1970er-Jahren bis zu seinem Abriss 2008. Objekte aus dem Palast, wie Fragmente der Skulptur „Gläserne Blume“, das Gemälde „Die Rote Fahne“ von Willi Sitte, Zeichnungen und Fotos erzählen von der damaligen Zeit. Zahlreiche Audio- und Videointerviews geben...

  • Mitte
  • 08.11.24
  • 2.461× gelesen
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.