Billy Wilder in Unterhosen
Annika Ludwig erzählt anekdotenhaft von 120 Jahren Leben und Schaffen im Nollendorf-Viertel
Ein kleines, aber sehr feines Buch hat die Wahl-Schönebergerin Annika Ludwig kürzlich veröffentlicht. „Varieté eines Jahrhunderts“ spielt rund um den Nollendorfplatz und erzählt in 16 Momentaufnahmen von berühmten und weniger berühmten Künstlerinnen und Künstlern, die dort lebten oder arbeiteten.
„Den vielfältigsten Stadtkiez der Welt“ nennt Annika Ludwig die Gegend, in der sie seit ein paar Jahren selbst lebt. Bei ihren regelmäßigen Sonntagsstreifzügen stieß sie immer wieder auf Gedenktafeln und begann zu recherchieren. Als sie dann im August dieses Jahres vom „Young Storyteller Award“ erfuhr, setzte sie sich hin und schrieb. Nur noch drei Monate hatte sie Zeit. „Da war manche Nachtschicht notwendig“, so die 33-Jährige. Die Arbeit hat sich gelohnt. Sie erreichte die Long List. Das heißt: Ihr Buch schaffte es unter mehr als 3700 Einsendungen unter die 129 besten.
Die 16 Kapitel nehmen die Leserinnen und Leser mit auf eine Zeitreise von 1904 bis heute. Sie begegnen dem Regisseur Billy Wilder in Unterhose, dem homosexuellen Schriftsteller Christopher Isherwood, der die Vorlage für das Musical „Cabaret“ lieferte, der Schauspielerin Tilla Durieux, die ihren reichen Geliebten überredet, die Piscator-Bühne im heutigen Metropol zu finanzieren. Ebenfalls das Wort ergreift der legendäre Berliner Kritiker Friedrich Luft, der sich 1946 auf seine erste Radiosendung vorbereitet. Ganze 44 Jahre sollte er danach noch beim Rias arbeiten.
Auch zu Zufallsbegegnungen kommt es. Zum Beispiel wenn Erich Kästner den Hotelier vom Sachsenhof in der Motzstraße bittet, den Bösewicht aus „Emil und die Detektive“ in seinem Haus übernachten zu lassen. Der Hotelier ist entsetzt, er möchte seinen Ruf nicht riskieren. Ganz anders eine Dame, die dort logiert. Sie findet allein den Namen des Diebs faszinierend: „Gru-nd-eis. Klingt bitterkalt. Klingt dubios“, sagt sie. Es ist die Schriftstellerin Else Lasker-Schüler.
Genau so habe es sich sicherlich nicht zugetragen, doch es hätte so sein können, sagt Annika Ludwig. Was tatsächlich historisch verbürgt ist, schreibt sie am Ende jedes Kapitels in ein paar Sätzen – egal ob es sich um die von den Nazis (und Mäusen) gestörte Filmvorführung von "Im Westen Nichts Neues" handelt, oder die Punks der Hausbesetzerszene oder das Café Berio, wo sich jahrzehntelang alte und junge Nachbarn trafen.
Jede der Mikro-Erzählung passt auf drei Seiten, das war eine Vorgabe des Storyteller Awards. Es sei bei einer so kurzen Form nicht ganz einfach, Leben in die Personen zu bringen, sagt Ludwig. Es ist ihr gelungen. Hübsch sind auch die kleinen Illustrationen von Valeria Dubrovskaya, die den Kapiteln vorangestellt sind. Eine handgezeichnete Karte zeigt zudem, welcher Künstler wo gewohnt oder gearbeitet hat. Zudem ist es nicht nur möglich, das Büchlein auf dem Sofa zu lesen, sondern auch an den Originalschauplätzen. Ein QR-Code auf der Rückseite führt dorthin.
Ihre Brötchen verdient Annika Ludwig bei einem Unternehmen, das europaweit Konzerte, Ausstellungen und andere Events organisiert. Ihr Traum ist jedoch, von der Schriftstellerei leben zu können. Für ihren ersten historischen Roman – er spielt in den USA zur Zeit des Zweiten Weltkriegs – hat sie bereits eine Agentur, aber noch keinen Verlag gefunden.
Ein weiteres Buch ist in Planung, das Thema steht noch nicht fest. Vielleicht soll es um die Zeit des Stummfilms gehen, vielleicht auch um die Gesellschaftsfotografin Frieda Riess oder die Nachtclubsängerin Jean Ross, Vorbild für Sally Bowles in „Cabaret“. Über beide Frauen hat Annika Ludwig bei ihren Recherchen für „Varieté eines Jahrhundert“ so viel herausgefunden, dass sie sich gut vorstellen kann, sich weiter mit ihnen zu beschäftigen.
Annika Ludwig: Varieté eines Jahrhunderts, gebunden, Verlag story.one, ISBN 978-3-7115-4593-0, 75 Seiten, 18 Euro.
Autor:Susanne Schilp aus Neukölln |
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