"Gehet hin und tut desgleichen"
Friedenau im August vor hundert Jahren
Was war eigentlich am 1. August vor hundert Jahren in Friedenau los? Ein Blick in die Zeitung von damals gibt einigen Aufschluss.
Der 1. August 1919 ist ein Freitag. Der Himmel ist leicht bewölkt. Es regnet etwas. Gelegenheit also, im Lokalblatt zu schmökern.
Leo Schultz, Herausgeber des Friedenauer Lokalanzeigers mit Geschäftsstelle in der Rheinstraße 15, und sein verantwortlicher Redakteur Hermann Martinius müssen gleich auf der Titelseite bekanntgeben, dass „Herr Krause in der Niedstraße 22“ seine Ausgabestelle „für unsere Zeitung abgegeben“ hat. Doch Ersatz ist schon gefunden. „Es ist uns gelungen, hierfür eine neue Nebenstelle einzurichten.“ Sie befindet sich in der Bäckerei von Berthold Müller am Friedrich-Wilhelm-Platz 6.
Ein Herz für "unsere Kinderchen"
Ansonsten kann sich der geneigte Leser der Zeitung, die im 26. Jahr in Friedenau erscheint, in die Lektüre des 14. Kapitels des Fortsetzungsromans „Glühender Lorbeer“ und in den Bericht von Martinius über Kinderheime an der Ostsee versenken. Friedenau hat auch eines, in der Forststraße in Zinnowitz auf Usedom. Es wird vom Friedenauer Verein für Ferienkolonien unterstützt. Die Friedenauer sollen spenden, so sie „ein Herz für unsere Kinderchen mit den bleichen, hohlen Wangen“ haben.
Der Leser des Lokalanzeigers weiß (noch) nicht, dass an diesem ersten Augusttag die Räterepublik in Ungarn zusammenbricht, in Basel und Zürich ein Generalstreik beginnt, im rechtsrheinischen Bayern das seit April geltende Kriegsrecht aufgehoben und im Münchner Glaspalast die erste Freie Kunstausstellung eröffnet wird. Er wird erst am nächsten Tag erfahren, dass der Friedenauer Bürgerrat trotz großer Unsicherheit, „die zurzeit hinsichtlich der Fahrpläne aller Friedenauer Verkehrsmittel besteht“, einen „übersichtlich geordneten Verkehrsplan in Taschenformat“ herausgibt. Er ist für 15 Pfennige im Gemeindehaus in der Kaiserallee 76a, seit 1950 Bundesallee, erhältlich.
In Berlin herrscht Friedhofsruhe seit der Niederschlagung des Aufstandes linksgerichteter Kräfte im März. Offiziell sind bei diesen „Märzkämpfen“ 1200 Menschen zu Tode gekommen. Der Belagerungszustand und die Lebensmittelrationierung bleiben in Kraft. Für die Friedenauer Einwohnerwehr bewerben sich sogar Männer, die schon im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 gekämpft haben. Redakteur Hermann Martinius ruft allen „wehrfähigen Friedenauern“ die „laute und dringliche Mahnung zu: Gehet hin und tut desgleichen“.
Bäcker haben kein Mehl für Weißbrot
Die Bäcker in Friedenau können kein Weißbrot backen. Sie bekommen, anders als ihre Schöneberger Kollegen, zu wenig oder überhaupt kein Weizenmehl geliefert. Jedoch ist es ihnen gestattet, Schrippen zu backen, wenn die Hausfrauen das Mehl dazu liefern. Die Hausfrauen erhalten ein Fünftel an Gewicht mehr Brötchen als sie Mehl gegeben haben.
Ein Trost sind den Friedenauern ihre Kinos. Gleich vier Lichtspielhäuser annoncieren für das anstehende Wochenende. Die Hohenzollern-Lichtspiele, Handjery- Ecke Kirchstraße, zeigen „Das Gerücht“ mit Käthe Haack und Bruno Kastner in den Hauptrollen sowie eine „Schicksalstragödie“ mit dem Titel „Das Tor der Glückseligkeit“. In den Biophon-Theater-Lichtspielen in der Rheinstraße 14 kann man sich die Uraufführung des Stummfilmmelodrams „Das Narrenschloss“ mit Lotte Neumann anschauen. In der Rheinstraße 60 liegen die Rheinschloss-Lichtspiele. Sie zeigen „Die Apachen“. Und am Breslauer Platz, dem damaligen Lauterplatz, präsentieren die Kronen-Lichtspiele „Ikarus“, ein Stummfilm-Weltkriegsdrama aus dem Jahr 1918 von Carl Froelich. Der letzte Kriegsfilm vor dem Waffenstillstand am 11. November 1918 wurde im Literaria-Film-Atelier in der Tempelhofer Oberlandstraße gedreht. Er existiert noch heute und wird in der Deutschen Kinemathek, dem Museum für Film und Fernsehen, am Potsdamer Platz verwahrt.
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
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