Schwindsucht jibts jratis zu
Über „Trockenwohner“ und Berliner Zimmer
Wohnungsmangel, steigende Mieten und Obdachlosigkeit: Alles schon dagewesen in Berlin. In der Zeit der Industrialisierung suchten Ärmere, meist Arbeiter, einen fragwürdigen Ausweg als „Trockenwohner“.
Dieses Phänomen fand sogar Eingang in die Literatur, so in Theodor Fontanes Altersroman „Die Poggenpuhls“, in dem zugleich weitere gängige Berliner Wohnverhältnisse näher beleuchtet werden. Bei Fontane sind die Trockenwohner eine verarmte Adelsfamilie – in der Großgörschenstraße.
„Trockenwohner“ lebten für ein paar Monate in neuen Häusern, deren Wände noch nicht ganz ausgetrocknet waren. Das lag am damals verwendeten Kalkmörtel. Er war billiger als Zementmörtel. Kalkmörtel hat die Eigenschaft, beim Trocknen Wasser freizusetzen. Bis ein Haus nach zirka drei Monaten wirklich bewohnbar war und vermietet werden konnte, überließ man die Wohnungen den „Trockenwohnern“ umsonst oder zu einem ganz niedrigen Mietzins. Körperwärme und Atemluft beschleunigten das vollständige Austrocknen der Wände.
Der hohe Preis für das günstige Wohnen: ständiges Umziehen und gesundheitliche Schäden. „Dafor blechen wa keene Miete, und die Schwindsucht jibts jratis zu!“, lässt Hans Fallada in „Ein Mann will nach oben“ einen solchen Trockenmieter sagen.
Zurück zu Fontane und seinen „Poggenpuhls“, niederdeutsch „Froschpfützen“, in der Großgörschenstraße, zu einer verarmten Majorswitwe und ihren fünf Kindern. „Die Poggenpuhls (…) wohnten (…) in einem gerade um jene Zeit fertig gewordenen, also noch ziemlich mauerfeuchten Neubau der Großgörschenstraße, einem Eckhause, das einem braven und behäbigen Manne, dem ehemaligen Maurerpolier, jetzigen Rentier August Nottebohm gehörte.“ So der Anfang von Fontanes 1888 spielender Geschichte. Nach vorne hatte die Wohnung eine „wundervolle Aussicht“ auf den Matthäikirchhof. Rückwärtig blickte Frau Majorin auf Werbung für „Schulzes Bonbonfabrik“. Sie war in großen roten und blauen Buchstaben auf die Rückwand eines Hauses an der Kulmer Straße aufgemalt.
Anders als in Falladas Roman können Fontanes Poggenpuhls in ihrer Wohnung in der Großgörschenstraße bleiben. Die bestand aus der „guten Stube“, der „einfensterigen Wohnstube“ – und dem sogenannten Berliner Zimmer, „ein bloßer Durchgang, (…), an dessen Längswand drei Betten standen, (…). Die vierte Lagerstätte, von mehr ambulantem Charakter, war ein mit Rohr überflochtenes Sofagestell, drauf sich, wochenweis wechselnd, eine der zwei jüngeren Schwestern einzurichten hatte.“ Es gab noch eine Küche und einen Hängeboden, darin das alte Dienstmädchen Friederike hauste.
Von Friedrich Engels ist Folgendes überliefert: „Hier in Berlin hat man das ‚Berliner Zimmer‘ erfunden, mit kaum einer Spur von Fenster, und darin verbringen die Berliner den größten Teil ihrer Zeit.“ In einem Brief beschrieb er das Berliner Zimmer als „diese in der ganzen anderen übrigen Welt unmögliche Herberge der Finsternis, der stickigen Luft, & des sich darin behaglich fühlenden Berliner Philistertums. Dank schönstens!“.
Frau Majorin könnte heute nicht mehr auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof schauen. Ihr Blick würde von der hochgelegenen Bahntrasse versperrt. Und Werbeaufschriften auf Häuserwänden an der Kulmer Straße gibt es auch schon lange nicht mehr.
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
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