Der Verlust ist einfach immens
Berliner Initiative ruft zur Solidarität mit der freien Kulturszene auf
„In Krisensituationen, in denen Menschen auf sich selbst zurückgeworfen sind, ist Kultur besonders wichtig“, meint das weltberühmte Berliner Kinder- und Jugendtheater „Grips“. Aber was ist, wenn die Kultur selbst durch eine Krise auf die Knie gezwungen wird wie jetzt durch die Corona-Pandemie?
Die Folgen für die Berliner Kultur- und Kreativwirtschaft sind verheerend. In allen Sparten ist die freie Szene am meisten von den zwangsläufigen Schließungen von Theatern, Opern, Konzerthäusern und anderen Veranstaltungsorten betroffen. Vor allem kleine private Kultureinrichtungen und Freiberufler stehen am finanziellen Abgrund. Es geht um die nackte Existenz.
Besonders hart trifft es beispielsweise den Schauspieler Selim Cinar. Sechs Wochen hat er mit Kollegen geprobt, umsonst. Die über zwei Wochen vorgesehenen Aufführungen finden nicht statt. Cinar kann auch keine Kinderprojekte mehr veranstalten. Und der Vertrag für ein fest eingeplantes Sommertheater-Engagement ist ausgeblieben. Sein Stammtheater, das privat geführte „Morgenstern“ in Friedenau, sitzt auf Rechnungen in Höhe von 15 000 Euro. Die Einstellung des Theaterbetriebs sei umso bitterer, weil man kurz vor einer Premiere gestanden habe und nun nicht wisse, wie die Kosten gedeckt werden sollen, sagt Theaterleiterin Pascale Senn Koch.
Grips-Theater fehlen 90 000 Euro
„Die Einstellung des Theaterbetriebs, und sei es auch nur für vier Wochen, kann existenzbedrohend für das Grips-Theater sein“, so dessen Leiter Philipp Harpain. Das Grips erhält zwar Zuschüsse vom Land, einen hohen Anteil des Budgets finanziert es aber über Einnahmen. Bis zu 19. April fallen mehr als 40 Vorstellungen weg. Dem Haus fehlen rund 90 000 Euro. Für einen Großteil der Belegschaft wurde Kurzarbeit beantragt. Das Grips aber läuft nicht ohne seine vielen freischaffenden Künstler. „Sie sind hier wie anderswo die schwächsten Glieder in der Kette“, sagt Harpain.
„So gut wie niemand von uns hat Rücklagen, um mehrere Wochen geschweige denn Monate zu überbrücken, sagt Moritz Majce vom Verein Zeitgenössischer Tanz, der Interessenvertretung von Tänzern, Choreographen, Tanzkompanien und weiteren Institutionen in diesem Kontext in Berlin. „Es ist wichtig, dass die politischen Entscheidungsträger verstehen, dass die freien Künstler Berlins zwar alle als Selbstständige arbeiten, aber im Unterschied zu anderen Bereichen keinerlei Möglichkeiten haben, als Darlehen konzipierte Notfallhilfen zurückzuzahlen“, so Majce.
Rücklagen hat kaum ein Amateurtheater
Eine große Herausforderung ist die Corona-Krise auch für die 22 Berliner Amateurtheater, die, zumeist als Vereine organisiert, ohnehin schon häufig mit Ausgaben und Einnahmen jonglieren müssen. „Die Vereine finanzieren sich normalerweise über Mitgliedsbeiträge, Eintrittsgelder, Spenden oder auch Sponsoren“, erläutert ihre oberste Vertreterin Marina Steinke vom Verband Berliner Amateurbühnen. Rücklagen haben die meisten nicht. Wie also in der gegenwärtigen Situation weiterlaufende Kosten wie die Miete für einen Probenraum, Produktionskosten für schon vorbereitete Vorstellungen oder die Rückerstattung von Eintrittsgeldern stemmen, wenn die Einnahmen weggebrochen sind, fragt sich Marina Steinke.
Viele Berliner stellen sich die Frage, was von der hauptstädtischen Kulturlandschaft übrig bleibt, sollte die Krise irgendwann durchgestanden sein. Inzwischen gibt es Hilfe von der Bundesregierung. Für die nächsten drei Monate. Schnell und unbürokratisch soll sie greifen. Auch der Berliner Senat gewährt für das laufende Jahr finanzielle Zuschüsse mit einem Volumen von 100 Millionen Euro.
Kartenbesitzer sollen Solidarität zeigen
Bevor Bund und Länder sich zu diesen Hilfsmaßnahmen entschlossen haben, sind andere Ideen entstanden, mit den betroffenen Künstlern und Theaterhäusern Solidarität zu zeigen und sie zu unterstützen. Ein echtes Berliner Eigengewächs ist die Aktion „Meine Karte für meine Bühne“ (#meinekartemeinebühne). Ein Appell an Besitzer von Karten für Kulturveranstaltungen. Sie werden gebeten, auf eine Rückerstattung zu verzichten und stattdessen das Eintrittsgeld an das jeweilige Haus zu spenden.
Initiiert hat den Aufruf Ramona Mosse. Sie habe zunächst das persönliche Bedürfnis gehabt, ihre schon gekauften Theaterkarten irgendwie zu spenden. „Denn der Verlust für die Kulturszene insgesamt ist einfach immens“, erklärt Mosse. Die Theaterwissenschaftlerin am Bard College Berlin hat darüber mit Kollegen an ihrer Privatuniversität der freien Künste und an der Freien Universität Berlin gesprochen mit dem Ergebnis, dass die Idee zu einer größeren berlinweiten Aktion ausgebaut wurde. Mitinitiatoren wurden Esther Slevogt und die Redaktion von nachtkritik.de, das Internetportal für Theaterkritik und Theaterberichterstattung.
Appell an Kulturpolitiker
„Für uns alle war ganz besonders wichtig, gerade auf die Situation der freien Szene aufmerksam zu machen“, erzählt Ramona Mosse; verbunden mit einem Appell an die Kulturpolitiker, für diese Künstler finanzielle Hilfen in die Wege zu leiten, „was ja nun auch schon etwas gebracht hat“.
In den sozialen Medien, von Theatern, gerade auch von kleineren und privaten Bühnen sei „Meine Karte für meine Bühne“ bisher sehr gut aufgenommen worden“, so Theaterwissenschaftlerin Ramona Mosse. In Berlin hat Der Heimathafen Neukölln den Hashtag auf seine Webseite geschrieben. Gleich am ersten Tag der Aktion hat Kultursenator Klaus Lederer (Linke) den Appell getweetet, ebenso das Berliner Ensemble, die Komödie am Kurfürstendamm oder auch die Koalition der Freien Szene Berlin. Wie viele Eintrittskarten aufgrund der Aktion nicht zurückgegeben worden und damit gespendet worden sind, lässt sich freilich nur schwer ermitteln.
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
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