Familie in gutbürgerlicher Nachbarschaft
Fünf neue Stolpersteine für jüdische Familie verlegt
In der Hackerstraße glänzen seit Kurzem fünf neue Stolpersteine vor dem Haus Nummer 22. Die Messingquader erinnern an die jüdische Familie Driesen und Lewin. Zur Gedenkstunde für Dorothea Lewin und Selma, Sally, Paul und Hans Philipp Driesen reisten Angehörigen aus Israel und Brandenburg an.
Die Initiative zu dieser Verlegung geht auf Gundula Oertel zurück, die heute in diesem Haus wohnt. Den Anstoß dazu gab vor einigen Jahren eine unerwartete persönliche Begegnung mit Angehörigen der jüdischen Familie. Im Sommer 2005 bemerkt Gundula Oertel vor ihrem Haus eine Gruppe Menschen, die zu den Fenstern hinaufsieht. Es stellt sich heraus, dass Nachfahren der Familie Driesen und Lewin auf der Suche nach der letzten Wohnadresse ihrer Angehörigen sind. Zum ersten Mal erfährt Gundula Oertel von der jüdischen Berliner Familie, die zwischen zwei Weltkriegen zu den Bewohnern des Hauses Hackerstraße 22 gehörte. Später kommt Oertel in Kontakt mit dem Verein Tracing the past, einem gemeinnützigen Verein, der sich der Erforschung und Erinnerung an die Verfolgten Europas in den Jahren 1933 – 1945 widmet. Oertel beginnt ihre Recherche der Biographien.
Dabei fand sie heraus, dass die Familie Driesen in den 1920er Jahren in dem 1911 fertiggebauten Haus Hackerstraße 22 wohnte. Selma Driesen, geborene Lewin, und ihr Ehemann Sally Driesen bewohnten mit ihren beiden Söhnen Paul und Hans Philipp sowie Selmas Schwester Dorothea Lewin eine Wohnung im zweiten Obergeschoss. Sally Driesen betrieb einen China- und Japanwarenhandel in der Charlottenburger Fuggerstraße 19. Selma kümmerte sich um den gemeinsamen Haushalt der Familie. Paul machte Abitur am nahen Paulsen-Gymnasium an der Gritznerstraße und studierte anschließend zehn Semester Medizin an der Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Uni. Hans Philipp ging bei der Firma Rosenhain, einem Galanteriewarengeschäft an der Leipziger Straße, in die Lehre. Und Dorothea Lewin arbeitete in einem Porzellan- und Kristallwarengeschäft, ebenfalls an der Leipziger Straße.
„Es ist eine von vielen Berliner Familien, die in dieser gutbürgerlichen Nachbarschaft in, wie man so sagt, wohl geordneten Verhältnissen lebt. Bis die Nationalsozialisten an die Macht kommen. Danach ist nichts mehr in Ordnung für sie. Denn die Driesens und die Lewins sind Juden, womit sie von nun an gnadenlosem Rassenwahn und der Entrechtung und Verfolgung durch die Nazis ausgeliefert sind“, schreibt Gundula Oertel über ihre Recherchearbeit.
Paul Driesen wurde 1933 als „Nichtarier“ zwangsexmatrikuliert und floh nach Palästina. Er starb 1967 in Israel. Sein Bruder Hans Philipp folgte ihm 1937. Er starb 1982 ebenfalls in Israel. Sally Driesen starb 1940 in einer Berliner Klinik nach einer Blinddarm-OP. Seine Frau Selma wurde ebenso wie ihre Schwester Dorothea 1943 nach Auschwitz Birkenau deportiert. Beide wurden vor dem 8. Mai 1945 im Konzentrationslager ermordet.
„Die Suche nach Familienzusammenhängen, Lebens- und Todesdaten der Familien Lewin und Driesen hat mich an viele Quellen und in unterschiedliche Archive geführt, viele Fragen beantwortet, aber längst nicht alle Lücken geschlossen“, sagt Gundula Oertel. Für sie ist die Verlegung der fünf Stolpersteine ein Meilenstein, aber nicht das Ende ihrer Recherche- und Begegnungstätigkeit.
An der Verlegung nahmen Ori Avigdorov, Enkel des nach Palästina geflüchteten Paul Driesen, mit seiner Ehefrau Smadar Avigdorov und Tochter Shai teil sowie die in Wittstock/Dosse lebende Angehörige und Künstlerin Doris Kretschmer. Sie präsentierte zu diesem Anlass ihr Kunstwerk zum Thema „Deportation“. Anwesend waren ebenfalls Roderick Miller und Caroline Flick, Gründungsmitglieder des Vereins Tracing the past.
Autor:Karla Rabe aus Steglitz |
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