Vor 90 Jahren genoss Franz Kafka das Vorstadtidyll
Die reichsdeutsche Hauptstadt sollte ursprünglich nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Palästina sein. Auf einer Postkarte Ende September 1923 beschreibt Franz Kafka seinen Aufenthalt in Berlin als "tollkühne Tat", "für welche man etwas Vergleichbares nur finden kann, wenn man in der Geschichte zurückblättert, etwa zu dem Zug Napoleons nach Russland".
Glücklich ohne Familie
In der Stadt herrschen schwere Zeiten. Die Inflation galoppiert. Demonstranten füllen die Straßen. Es kommt zu Streiks und Ausschreitungen. Obwohl Kafkas Pension von der rasenden Geldentwertung aufgefressen wird und er auf "Butterpakete" seiner Eltern angewiesen ist, ermöglicht Berlin dem Autor von "Schloss" und "Prozess" die lebenslang ersehnte Distanz zur Familie und einen selbstbestimmten, wenn auch kurzen Lebensabschnitt mit seiner jungen Freundin Dora Diamant. Das "wunderbare Wesen" Frau hat er erst wenige Wochen zuvor im Ostseebad Graal-Müritz kennen gelernt.
Erste Station ist die heute zerstörte Miquelstraße 8. Das Paar lebt zurückgezogen. Kafka steht meist gegen neun Uhr auf und verbringt dann aber die meiste Zeit des Tages im Bett. "Untätig verfliegen mir die Tage."
Mit Prominenten in der Stadt trifft er sich nur ganz selten. Essen im Restaurant und Theaterkarten sind unerschwinglich.
Und dennoch schreibt er einem Freund: "Über die nächste Umgebung der Wohnung komme ich kaum hinaus, diese ist freilich wunderbar, meine Gasse ist etwa die letzte halb städtische, hinter ihr löst sich das Land in Gärten und Villen auf, alte üppige Gärten. An lauen Abenden ist ein so starker Duft, wie ich ihn von anderswoher kaum kenne. Dann ist da noch der große Botanische Garten, eine Viertelstunde von mir, und der Wald, wo ich allerdings noch nicht war, keine volle halbe Stunde. Die Einfassung des kleinen Auswanderers ist also schön."
Das Leben in Steglitz ist "friedlich, die Kinder wohl aussehend, die Bettelei nicht beängstigend, der Fundus aus früheren reichen Zeiten immer noch großartig und im gegenteiligen Sinne beschämend." Dem Berliner Stadtzentrum zieht Franz Kafka den Steglitzer Rathausplatz vor. Es ist sein "Potsdamer Platz". "Dort fahren zwei oder drei Elektrische, dort vollzieht sich ein kleiner Verkehr, dort sind die Filialen von Ullstein, Mosse und Scherl (...)."
Keine zwei Monate später wird dem Schriftsteller und seiner Lebensgefährtin gekündigt. Sie finden zwei bescheidene Zimmer im ersten Stock der Villa der Ärztin Rethburg in der Grunewaldstraße 13. Die neue Bleibe hat "weitere Vorteile, Centralheizung und elektrisches Licht".
Aber auch dort wohnen die beiden nicht lange. Sie können die Miete nicht aufbringen. Anfang Februar 1924 müssen sie in eine billigere, mit Öfen beheizte Unterkunft in der Busseallee 7-9 in Zehlendorf, damals die Heidestraße 25-26, ausweichen. "Weil ich in meiner bisherigen schönen Wohnung als armer zahlungsunfähiger Ausländer gekündigt worden bin", erzählt Kafka einem Freund.
Bereits anderthalb Monate später, am 17. März 1924, verlässt Franz Kafka Berlin endgültig. Entgegen seiner noch im November 1923 geäußerten Absicht: "Ich bleibe wohl noch einige Zeit hier, trotz der besinnungslosen Teuerung".
Noch keine 41 Jahre alt stirbt der Schriftsteller am 3. Juni 1924 in einem österreichischen Sanatorium an Kehlkopftuberkulose.
Von Krankheit gezeichnet
Obwohl die Krankheit seinen Zustand von Tag zu Tag verschlechtert hat, entstehen in Steglitz doch noch zwei Erzählungen: "Die kleine Frau", die Geschichte einer sehr beweglichen Dame voller Ärger, der sich zu Weinkrämpfen steigern kann. Sie ist vermutlich ein kafkaeskes Abbild der Wirtin in der Miquelstraße. Und in der Grunewaldstraße kann Kafka "Der Bau" vollenden.
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
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