Über den Tag hinaus
Erinnern an den Holocaust – nicht nur am 27. Januar
Die Ministerin erwartete ein Großaufgebot an Fotografen und Kamerateams – Bayerischer Rundfunk, ARD, ZDF, auch für das aktuelle Mittagsmagazin seien noch Bilder geplant, wurde sie davor von ihrem Sprecher aufgeklärt. Franziska Giffey (SPD), auf Bundesebene zuständig für Familie, Frauen und Jugend, war am 27. Januar nach Kreuzberg gekommen. Anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz säuberte sie sechs Stolpersteine in der Dresdener Straße. Danach wurden Rosen niedergelegt.
Die Ministerin machte das zusammen mit Friedrichshain-Kreuzbergs Kulturstadträtin Clara Herrmann (Bündnis90/Grüne) sowie Schülerinnen und Schülern der Schöneberger Löcknitz-Grundschule. Dieser Termin sollte für die passenden Bilder am Gedenktag sorgen. Einschließlich eines Statements. Es gehe gerade heute darum, den Anfängen zu wehren. Hass, Hetze, Antisemitismus entgegen zu treten, erklärte Franziska Giffey. Dass solche Aussagen mittlerweile auf ganz reale Ereignisse zielen, sagte sie natürlich auch, etwa mit Verweis auf den Anschlag auf die Synagoge in Halle.
An die 75. Wiederkehr des Jahres 1945 wird auch in den kommenden Monaten noch erinnert, kulminierend am 8. Mai, dem Ende des Zweiten Weltkriegs und damit der Naziherrschaft vor einem Dreivierteljahrhundert. Die Daten fallen aber in eine Zeit, in der mittlerweile auch ganz andere Töne zu hören sind. Wo vom "Dritten Reich" als "Vogelschiss" die Rede ist oder eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gefordert wird. Wo Verbalattacken wieder salonfähig werden, die höchstens noch in kleinen Nischen vermutet worden wären. Und wo es auch nicht nur bei angedrohten Angriffen bleibt.
Erster Stolperstein Berlins
Gleichzeitig gibt es aber immer noch viele Menschen, die sich dem aktiv entgegen stellen. Als ein wichtiges Zeichen gelten dabei die Stolpersteine. Franziska Giffey hatte vor ihrem Auftritt in der Dresdener Straße Menschen in das Friedrichshain-Kreuzberg Museum eingeladen, die sich an diesem Projekt regelmäßig beteiligen, die das Verlegen der Gedenkquader für verfolgte und ermordete einstige Nachbarn organisieren, ihre Biografien recherchieren, sich auf die Suche nach vielleicht noch lebenden Nachkommen machen. Die Sechstklässler aus der Löcknitz-Schule gehörten ebenso dazu wie zum Beispiel Vertreter des Aktiven Museums oder die Synagoge am Fraenkelufer.
Kreuzberg spielt in der Geschichte dieser Gedenkzeichen eine wichtige Rolle. Auch das war ein Hintergrund, warum die Ministerin diesen Ort für ihren Besuch gewählt hatte. Vor rund einem Vierteljahrhundert wurde dort der erste Stein in Berlin, damals noch illegal, gesetzt. Inzwischen sind es im gesamten Bezirk ungefähr 800. In ganz Berlin etwa 8000, rund 75 000 bundesweit. Eine Erfolgsgeschichte, auch wenn der Begriff in diesem Zusammenhang etwas deplatziert erscheint. Aber zumindest ein Beleg dafür, dass sich noch immer viele Menschen für die Vergangenheit interessieren, sich ihr stellen.
Das ist ebenso richtig, wie die Tatsache, dass die Steine inzwischen häufig beschmiert oder beschädigt werden. Dass Menschen, die sich in dieser Richtung engagieren, vor Anfeindungen nicht gefeit sind. Und es gibt ganz reale Bedrohungen, auf die nicht nur der Vertreter der Fraenkelufer-Synagoge hinwies. Seine Gemeinde habe immer gehofft, dass sie ihren Schutzzaun eines Tages abbauen könne, sagte er. Spätestens seit Halle sei aber klar, dass das wohl nicht passieren wird.
Im Räderwerk von Unrecht und Verbrechen
Wie also mit all dem umgehen? Information, Aufklärung, direktes Konfrontieren mit der Geschichte. Es sind meist nicht ganz neue Rezepte, von denen aber nicht nur Franziska Giffey hofft, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlen. Auch mit Verweis auf entsprechende Mittel, die aus ihrem Ministerium, etwa für Fahrten in Gedenkstätten, zur Verfügung stehen. Solche Vor-Ort-Besuche würden das Geschehen gerade für Jugendliche am ehesten erfahrbar machen.
Ein Lehrer pflichtete bei. Er unterrichtet an einem Oberstufenzentrum, und bei seinen Schülern habe der Gang durch ein Konzentrationslager mehr Wirkung als eine theoretische Geschichtsstunde. Auf den ersten Blick ganz simple Dinge würden dort einen Anknüpfungspunkt ergeben. Auch für den Bau der Lager hätte Material geordert müssen, fanden Ausschreibungen statt, bei denen sich Firmen beworben haben. Deren Mitarbeiter hätten dann den Bedarf für die Todesmaschinerie gefertigt. Denke man sich den damaligen Zweck kurz einmal weg, laufe das Procedere heute kaum anders. Und gerade auf seine Klientel warteten solche Aufgaben im späteren Berufsleben. Spätestens an diesem Punkt werde vielen klar, wie schnell jemand in ein Räderwerk von Unrecht und Verbrechen geraten könne, sich vielleicht selbst mitschuldig mache.
Aufklärung könne nicht früh genug beginnen, fand auch die Frau aus der Stolpersteininitiative. Sie unterlegte das ebenfalls mit eigenem Erleben. Nachdem wieder einmal einige Steine beschmiert worden waren, wollte sie sich daran machen, sie zu säubern. Aber das machte bereits eine Kitagruppe. Auf die Frage, wie es dazu gekommen sei, erklärte die Erzieherin, sie habe den Kindern gesagt, die Steine seien für Menschen da, zu denen andere sehr böse waren, obwohl sie nichts gemacht hätten. Und noch heute sei das manchmal so. Aber es gebe auch andere, die das nicht gut finden. So wie ihre Gruppe.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.