Fluch oder Segen?
Überblick zur touristischen Struktur Neuköllns / Vision für 2030

Neben dem Schloss Britz befindet sich der Gutshof Britz. Das Marketing beider Standorte könnte besser laufen, so heißt es im neuen Tourismuskonzept. Bislang fehle den einzelnen Akteuren hierfür eine gemeinsame Strategie, was wiederum am fehlenden Personal liege. | Foto: Corina Niebuhr
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  • Neben dem Schloss Britz befindet sich der Gutshof Britz. Das Marketing beider Standorte könnte besser laufen, so heißt es im neuen Tourismuskonzept. Bislang fehle den einzelnen Akteuren hierfür eine gemeinsame Strategie, was wiederum am fehlenden Personal liege.
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Lautes Gejohle nachts auf der Straße, Müll und Wildpinkler – im nördlichen Neukölln sind viele Bewohner genervt vom Partytourismus. Vor allem der Reuterkiez ächzt unter dem Ansturm internationaler Gäste. Senat und Bezirk versprechen Abhilfe: Die Tourismusströme sollen entzerrt, nachhaltiger und verträglicher werden.

Was viele freuen dürfte: Der Marketingslogan „Berlin 365/24“ ist out. Zwar lockte er auch Kulturinteressierte nach Berlin – mittlerweile klingt er in den Ohren vieler Berliner aber wie die Eintrittskarte zur völligen Enthemmung. Gefragt ist vielmehr ein stadtverträglicher Tourismus, der von Senatsseite auch bekräftigt wird: mit „12 mal Berlin | er | Leben – Konzept für einen stadtverträglichen und nachhaltigen Berlin-Tourismus 2018+”.

Daran anlehnend entstand das „Tourismuskonzept Bezirk Neukölln“, das Bezirksbürgermeister Martin Hikel kürzlich vorstellte. Das über 100 Seiten starke Papier ist ein Entwurf, der in den kommenden Monaten zur Diskussion steht. Damit auch die Bewohner Neuköllns ein Wörtchen mitreden können, wird ein Tourismusbeirat gegründet. Bezahlt wurde das lokale Konzept mit Geld aus der Wirtschaftsverwaltung des Senats, erarbeitet mit Hilfe von visitBerlin.

Zu viele Unterkünfte im Reuterkiez

Im Herbst 2018 fand zudem im Rathaus Neukölln ein Workshop mit lokalen Tourismus-Akteuren statt, darunter Vertreter des Quartiersmanagements Schillerkiez. Die Gruppe diskutierte den Status Quo, Potenziale und Ziele sowie wichtige Aufgaben, die angegangen werden müssten, damit der Tourismus in Neukölln nachhaltig blüht.

Das vorgelegte Tourismuskonzept soll wesentlich auf den Ergebnissen dieser Gruppenarbeit beruhen. Entstanden ist ein Rundumblick darüber, wo der Bezirk gerade in Sachen Tourismus steht – auf Risiken wie Chancen. Jeder kann es von der Bezirksamtsseite der Wirtschaftsförderung im Bereich „Tourismus“ downloaden, und zwar unter https://bwurl.de/14dp.

Zu den Risiken zählt eindeutig die Verdrängung von Wohnraum durch touristische Unterkünfte. Laut insideairbnb.com soll es – gemessen an der Einwohnerzahl – im Reuterkiez die höchste Dichte an Airbnb-Inseraten in ganz Berlin geben: 24,8 pro 1000 Einwohner. AirDNA errechnete für Neukölln im Vorjahr 2078 Airbnb-Einheiten. Diese Unterkünfte alleine könnten grob geschätzt etwa 4000 Menschen Wohnraum bieten, so heißt es im Konzept.

Routen für Spezialinteressen

Erst zum Weltkulturerbe Hufeisensiedlung und dann rüberspazieren zum Schloss und Gutshof Britz? Nur wenige Touristen wissen wohl, dass diese stadtgeschichtlichen Perlen so eng beieinander liegen. Das soll sich ändern. Der Bezirk plant „Erlebniswelten“ für Touristen.

Die sollen zukünftig die Attraktionen Neuköllns als Ganzes vermarkten. Es sind drei Themenfelder vorgesehen: die Erlebniswelten „Urbanes Leben“, „Stadt-Oasen“ und „Melting Pot“. Neukölln möchte so bis 2030 seine Alleinstellungsmerkmale in Sachen Tourismus ausbauen und konzentriert sich dabei auf die Bedürfnisse von zwei Besuchergruppen, die für den Bezirk interessant sind: zum einen die gesellschaftlich interessierten „Urban Professionals“, wie die ambitionierte kreative Avantgarde, die Stadterlebnisse abseits der ausgetretenen Pfade und klassischen Sehenswürdigkeiten sucht und diese auch selbst mitgestalten will. Kulturaffin und kunstinteressiert seien diese Berlinbesucher nicht am reinen Konsum interessiert, heißt es im „Tourismuskonzept Berlin Neukölln“. Sie seien oft selbst Künstler, Musiker oder anderweitig kulturell aktiv, mit dem Großstadtleben vertraut und fielen deshalb als Besucher kaum auf.

Eine weitere Zielgruppe, die Neukölln stärker in den Blick nimmt, sind die Traditionell-Bürgerlichen, also die klassischen Städtetouristen: An Stadtspaziergängen, Gartenkultur, inszenierter Geschichte, traditioneller Küche und Kultur interessierte Menschen, die hier und da auch „leichte“ moderne Kulturaspekte suchen. Ihre Anzahl sei zwar rückläufig, heißt es im Tourismuskonzept, mache aber immerhin rund ein Viertel der Bevölkerung aus.

Partytouristen bewusst ausklammern

Besucher aus dem Milieu der Hedonisten, die mit ihrem Leitmotiv „Spaß, Aktion und Unterhaltung“ unterwegs seien, wolle der Bezirk dagegen ganz bewusst nicht ansprechen. Die höheren sozialen Schichten der „Performer“ und Liberal-Intellektuellen sind ebenfalls nicht Teil der Neuköllner Zielgruppe. Hintergrund ist, dass dem Bezirk bislang in der Breite eine entsprechende Spitzengastronomie und Luxushotels fehlen.

Statt sich in Gefilde zu begeben, die andere Bezirke besser bedienen, möchte sich der Bezirk auf seine Stärken konzentrieren. Wie Arte in der Fernsehlandschaft, so besetze Neukölln innerhalb Berlins eine Nische. Ein Schwerpunkt liege auf Kunst, wobei das Angebot vom klassischem Kulturprogramm bis hin zur jugendlichen Subkultur reiche – immer mit hohem Qualitätsanspruch und Weltoffenheit. Neukölln bewege sich wie Arte abseits des Mainstreams und versuche neue Perspektiven, originelle oder experimentelle Formate zu zeigen. Hierfür ist das weltweit bekannte Kunstfestival „48 Stunden Neukölln“ ein gutes Beispiel.

Und die Umsetzung?

Bisher haben die Verantwortlichen im Bezirk touristische Entwicklungen mehr oder weniger geschehen lassen. Zukünftig wollen sie diese stadtverträglich und nachhaltig steuern mit der „Arte-Strategie“ – und fordern dafür vom Land Berlin auch mehr Geld und Personal ein.

Als Richtung schlägt der Bezirk die schon erwähnten drei Erlebniswelten „Urbanes Leben“, „Stadt-Oasen“ und „Melting Pot“ vor. Die sollen zukünftig touristische Themen gleich mit Angeboten und Produkten verbinden. Besucher bekommen also nicht mehr den Britzer Garten oder den Körnerpark einzeln präsentiert, sondern Radtouren oder Spaziergänge zu Neuköllns Oasen der Gartenbaukultur. Letztendlich sollen die Akteure im Kulturbereich, in den Kiezen, an den touristischen Hotspots viel stärker miteinander vernetzt werden – denn aktuell kocht jeder vorwiegend noch sein eigenes Süppchen. Was am Ende wirklich gelebt wird an vernetzter Tourismuskultur, bleibt abzuwarten. Bislang ist noch unklar, wer diesen Vernetzungsaufwand im Detail leistet und bezahlt.

Autor:

Corina Niebuhr aus Kreuzberg

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