Reaktionen auf Corona-Lockdown
Was denken Neuköllner über die Corona-Krise?
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie bestimmen seit einigen Wochen den Alltag der Menschen. Wie diese mit den Einschränkungen umgehen, ist jedoch sehr unterschiedlich. Die Sorge um Gesundheit, Verlust von Arbeit und die Folgen der Eindämmungsmaßnahmen und der Isolation stehen im Konflikt miteinander. Einige Passanten im Süden Neuköllns erzählen von ihren Erfahrungen mit der Corona-Krise.
Nele, 45, ist Physiotherapeutin und Heilpraktikerin. Ihre Arbeit setzt engen Kontakt mit den Menschen voraus. Dennoch besucht sie ihre Patient*innen weiterhin zu Hause. Sie macht sich wenig Sorgen um das Virus, das sie nicht für bedeutend anders hält als andere Viren, mit denen die Menschen in der Vergangenheit umzugehen hatten.
Die Gefährlichkeit des Corona-Virus im Vergleich zu anderen Viren ist objektiv nur schwer einschätzbar. Aktuelle Fallzahlen kommen nur unter sehr einschneidenden Maßnahmen zustande und lassen sich nicht eins zu eins mit Zahlen anderer Virenepidemien ohne solche Maßnahmen vergleichen. Die Zahl der Todesfälle mit COVID-19 Erkrankung ist laut RKI bisher 7.634 (Stand 13.05.). Für die Saison 18/19 meldet das Robert Koch-Institut (RKI) lediglich 954 Todesfälle mit Influenza-Infektion (Grippe), bei denen zu 61 Prozent die Influenza als Todesursache angegeben wurde. Schätzungen des RKI beruhend auf einer allgemeinen Veränderung der Sterblichkeit während der Grippezeit deuten jedoch im gleichen Zeitraum auf bis zu 25.000 an Influenza Verstorbene.
Mehr als um das Corona-Virus sorgt Nele sich um den Alltag ihre Patient*innen und deren Einsamkeit. Sie berichtet von einer älteren Patientin, deren Tochter entschied, dass die Hausbesuche nun aufhören sollten. Nele fürchtet das Leid, dass die ältere Patientin nun durch die Einsamkeit erfahren mag. Für sie selbst bedeuten die Einschränkungen, dass sie eine lange geplante Asienreise nun absagen musste. Da sie an einer chronischen Krankheit leidet, wisse sie nicht, ob sie im nächsten Jahr noch in der Lage sei, diese Reise nachzuholen.
Die Reaktionen auf das Corona-Virus hält sie für übertrieben. In ihrem persönlichen Umfeld sei niemand betroffen. Und was sie aus den Medien wahrnimmt, scheint ihr überzogen zu sein. Sie fragt sich beispielsweise, warum bei den Todeszahlen immer alle mit dem Virus verstorbenen zusammengefasst werden, anstatt nur derer, die aufgrund des Virus gestorben sind. Ihr Vertrauen in die zuständigen Institutionen ist gering. Für die Vogelgrippe sei ein Impfstoff schnell verfügbar gewesen, sagt sie. Für den Corona-Virus ist er es nicht. Sie vermutet ökologische Interessen der Pharmaindustrie dahinter. Die nun überall sichtbaren Gesichtsmasken hält Nele für wenig wirksam.
Es gibt in der Tat Vogelgrippen-Impfstoffe, bisher allerdings nur für Tiere. Für Menschen sind aktuell keine verfügbar.
Barbara, 79, macht sich mehr Sorgen. Um ihre Gesundheit, um die Gesundheit und das Leben ihrer Freund*innen und Bekannten. Sie ist Rentnerin, hält sich an alle Vorgaben und vertraut darauf, dass diese gerechtfertigt sind. Selten nur trifft sie ihre Bekannten. Leidet unter der Einschränkung des sozialen Lebens. Sie wünscht sich besonders, in ihr Fitnessstudio für Senioren zurückkehren zu können und wieder etwas Sport zu machen. An die aktuellen Einschränkungen gewöhnt hat sie sich nicht und empfindet sie Woche für Woche zunehmend als belastender. Gleichzeitig geht sie davon aus, dass sie noch einige Monate anhalten werden. Sie hofft, damit besser umgehen zu können, indem sie sich mehr auf sich besinnt, mehr Acht gibt, einige Übungen macht. Das Wort „Mediation“ beschreibt es ganz gut findet sie.
Allerdings kann sie aktuell auch Positives beobachten. Sie empfindet einen verstärkten Gemeinschaftssinn. Ihre Nachbar*innen sind höflicher. Sie erklärt sich dies dadurch, dass man nun mehr aufeinander angewiesen ist. Darauf, dass auch alle anderen sich bemühen, die Ausbreitung des Virus einzuschränken. Und sie sieht hier viel Bereitschaft, einander zu helfen.
Sorgen macht Barbara sich jedoch nicht nur um die gesundheitliche Bedrohung durch das Virus, sondern auch um Populisten, die absurde Theorien verbreiten, wie beispielsweise, dass das Virus gezielt in Umlauf gebracht worden sei. Zu wenig, findet sie, wird dem in politischen und öffentlichen Debatten Paroli geboten.
Adam (Name geändert), 46, hat wenig Muße, sich ums Große und Ganze zu kümmern. Er arbeitet in der Gastronomie, eigentlich. Seit dem 21.03. geht das nicht mehr. Er bekommt seitdem Harz IV. Auch seine Frau kann aktuell nicht mehr arbeiten. Sein Essen, seine Wohnung und was er so braucht, würde er schon bezahlen können. Für seine Kredite aber, die er während er arbeitete normal bezahlen konnte, bekommt er keine Hilfe. Wie er damit umgehen soll weißt er nicht. Er hofft, mit zunehmenden Lockerungen bald wieder in der Gastronomie arbeiten zu können. Er hält sich an die Vorgaben, findet aber, dass uns zu viel Angst gemacht wird. Auch seine Einschätzung ist es, das an der Grippe mehr Menschen sterben.
Christiane, 63, befasst sich auch vornehmlich mit sich. Sie arbeitet als Verkäuferin im Einzelhandel. Das Geschäft ist nun seit einigen Wochen geschlossen, sie bekommt aber weiterhin ihren Lohn und muss sich wenig Sorgen machen. Auch weiterhin trifft sie sich mit ihren Freund*innen. Dass in den Zeitungen immer so viel zum Corona-Virus steht, nervt sie. Auch sie hat in ihrem persönlichen Umfeld keine Betroffenen. Mit den Entscheidungen der Politik arrangiert sie sich. In ihrem Empfinden kommen die von oben. Letztlich, findet sie, entscheidet jede*r für sich, was man macht und worauf man verzichtet. Wenn ihre Mutter beispielsweise keine Geburtstagsfeier wolle, sei das so. Sie besucht weiterhin ihr Umfeld. Und die aktuelle Lage hat auch Gutes. Christiane genießt diese Auszeit, die sie lange nicht hatte.
Uwe, 70, ist Pensionär, ehemaliger Lehrer. Auch er hält sich an die offiziellen Vorgaben. Er wohnt etwas außerhalb Berlins in einem dörflichen Umfeld mit seiner Frau. Diese hat Asthma und damit bereits eine Vorerkrankung. Sie machen sich deswegen besonders Sorgen um das Virus. Uwe hat sich inzwischen aber an die Einschränkungen gewöhnt. Auch er denkt darüber nach, dass diese noch lange anhalten werden, hat sich damit aber ganz gut eingerichtet. Bezüglich der Lockerungen hofft er, dass man bald wieder draußen in Restaurants sitzen kann, wo der Abstand eingehalten werden kann. Es sorgt ihn, dass sich viele nicht an Einschränkungen halten. Gestern hat er seiner Tochter zugesagt, dass sie seine Frau und ihn mit den Enkelkindern (2 und 6) besuchen könne. Er befürchtet jedoch, dass seine Frau dadurch doch mehr gestresst ist als erwartet und er denkt, die Enkelkinder werden die angespannte Lage auch nicht verstehen oder genießen können. Er wird seiner Tochter heute absagen.
Es herrscht Uneinigkeit unter den Menschen in Neukölln. Als Notmaßnahme wurden die Einschränkungen akzeptiert. Für einige sind ihre Folgen aber mehr und mehr zu spüren. Sie erhoffen sich eine Verbesserung ihrer Lage durch Lockerungen der Einschränkungen. Je länger die Maßnahmen aufrecht erhalten werden, desto größer dürfte der Druck werden, die Konflikte zwischen der Eindämmung des Virus und des wirtschaftlichen und sozialen Fortbestehens der Menschen aufzulösen. Die Akzeptanz der Maßnahmen hängt unter anderem auch vom Vertrauen in die öffentlichen und politischen Institutionen ab und in diejenigen, die aktuell die Entscheidungen über die Einschränkungen treffen. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass die Medien die aktuelle Lage überdramatisieren. Es bleibt zu fragen, wie viel Vertrauen öffentlichen Institutionen und den Medien zukommen sollte, wie dieses gegebenenfalls gestärkt werden kann und was sie gegebenenfalls tun können, um mehr Vertrauen zu verdienen.
Autor:Sebastian Pohl aus Buckow |
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