Zwei beispielhafte Familien
Warum Reinickendorfer Bürger Pflegekinder großziehen
Der kleine Junge, in diesem Artikel heißt er „Paul“, ist ein Jahr alt. Seit 22. August ist er das Pflegekind in der Familie von Sandra. Paul lacht viel und lässt sich zufrieden füttern. Zu Sandra, die nicht seine leibliche Mutter ist, hat sich anscheinend sehr schnell ein Urvertrauen hergestellt.
Paul ist eines von bis zu 200 Kindern, die jedes Jahr im Bezirk Reinickendorf in Pflege gegeben werden müssen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Manchmal melden sich Mütter oder Eltern selbst, wenn sie sich den Herausforderungen mit einem Kind nicht gewachsen fühlen. Häufig wird das Jugendamt tätig und nimmt die Kinder aus den Familien. Im besten Fall kommen die Kinder in Pflegefamilien wie der von Sandra, ihrem Mann und zwei leiblichen Kindern, sieben und neun Jahre alt, die noch zu Hause leben. Paul ist ihr erstes Pflegekind. Erst seit kurzem hat die Familie die Berechtigung für diese Aufgabe.
Einige Kilometer weiter wohnt Tanja mit zum Zeitpunkt des Besuchs noch drei Kindern. Die Älteste (14) ist ihr eigenes Kind. Es folgen ein Junge (12), mit dem kurz nach dessen Geburt ihr Einsatz als Pflegemutter begann, und ein Mädchen, acht Jahre alt, das sie auch als Kleinkind in Pflege genommen hat. Bis vor kurzem lebte noch ein weiterer Junge (11) in ihrer Familie. Er ist inzwischen ausgezogen, kommt aber regelmäßig vorbei.
In Kürze wird die Familie erneut wachsen. Tanja ist eine Anlaufstelle, wenn Kinder sehr kurzfristig in Obhut genommen werden müssen. Dafür ist in ihrer Wohnung immer ein Zimmer reserviert. Mitte September werden zwei Mädchen, zwei und drei Jahre alt, einziehen.
Tanja und Sandra, zwei Frauen, die zusammen mit ihren Familien eine Aufgabe übernommen haben, für die das Wort Berufung am besten passt. Sie nehmen Kinder bei sich auf, deren Start ins Leben alles andere als einfach war. Sie versuchen, ihnen Halt, Stabilität, Zuwendung zu geben. Die eine macht das bereits seit einem Dutzend Jahren, die andere erst seit Kurzem.
Warum aber wurden sie Pflegemütter? Ihr Motiv sei gar nicht so selbstlos und uneigennützig, „vielleicht sogar egoistisch“, sagt Sandra. Die Kinder von heute, würden einmal diejenigen sein, „die sich um uns kümmern sollen. Also sollten wir uns auch um sie kümmern“, erklärt sie. Sie habe viel Glück im Leben gehabt und wolle davon etwas zurückgeben. Sandra hat fünf leibliche Kinder, von denen die Ältesten bereits 27, 23 und 21 Jahre alt sind.
Tanja hat drei „eigene“ Kinder. Die beiden ältesten sind schon lange aus dem Haus. Tanja selbst hat sich sehr früh für Berufe mit sozialem und karitativem Hintergrund interessiert. „Eine Zeitlang wollte ich Entwicklungshelferin werden“, erzählt sie. Ihre heutige Bestimmung fand sie nach ihrem dritten Kind. Die Schwangerschaft und noch mehr die Zeit nach der Geburt seien wunderschön gewesen, schwärmt Tanja. Wenig später nahm sie das erste Pflegekind an. Dies entschied sie gemeinsam mit ihrem Mann, von dem sie sich vor zwei Jahren getrennt habe. Tanjas Bestimmung seien Kinder und deren Wohlergehen, erklärt Eva, die Freundin von Tanjas ältestem Sohn. Das ist das „was du kannst, was du fühlst, wie du lebst, wer du bist.“
Aktuell gibt es in Reinickendorf rund 200 Pflegefamilien. Die Zahl klingt zunächst ziemlich hoch, sie relativiert sich aber im Verhältnis zum Bedarf. Bevor jemand diesen Status bekommt, stehen intensive Prüfungen an. Die hätten ungefähr so lange gedauert, wie eine Schwangerschaft, rekapituliert Sandra. Es habe mehrere Gespräche gegeben. Ein umfangreicher Fragebogen musste ausgefüllt werden. Einsichten in die wirtschaftliche Situation wurden verlangt und es gab einen Vor-Ort-Termin. Auch die beiden Kinder wurden interviewt und nach eventuellen Vorbehalten gegen ein weiteres Geschwisterchen abgeklopft. Ein polizeiliches Führungszeugnis ist ohnehin obligatorisch. Ein ziemlicher Aufwand, aber notwendig, stellt Sandra fest. Denn es handle sich um einen sehr sensiblen Bereich.
Mehr als das persönliche Durchleuchten beklagt Tanja den Umgang mancher Ämter mit den Pflegefamilien. „Einige vermitteln dir den Eindruck, du bis der letzte Husten.“ Pflegekinder stehen in der Regel unter der Verantwortung derjenigen Jugendämter, aus deren Bezirken die leibliche Mutter stammt. Tanja hat es deshalb mit den Behörden in Pankow, Friedrichshain-Kreuzberg und Reinickendorf zu tun. Stelle sie beispielsweise den Antrag auf einen Zuschuss, könne es sein, dass ein Amt ihn sofort bewilligt, das zweite eine weitere Begründung verlangt und das dritte das Anliegen ablehnt, erzählt sie aus ihren Erfahrungen.
Es gebe aber auch engagierte Menschen. Beide Pflegemütter erwähnten Kordula Runow, die Verantwortliche im Bezirksamt Reinickendorf und die Kooperationspartner im Verbund der Pflegekinder Reinickendorf, Horizonte gGmbH und Waltraud Viet, Tanja auch die AWO pro:mensch gGmbH und Thomas Kralovsky. Der Bezirk Reinickendorf vermittelt zumindest nach außen die Botschaft, die Pflegefamilien liegen ihm am Herzen. Sie werden regelmäßig zu Treffen eingeladen und ihr Engagement gewürdigt. Es gibt Informationsveranstaltungen und Aufrufe an weitere Interessierte, sich zu melden.
Ja, in Reinickendorf bestehe eine Wertschätzung für diese Arbeit, sagte Waltraud Viet. Aber insgesamt hätten Pflegefamilien keine Lobby. Vor allem in der Berliner Landespolitik werde deren Einsatz noch immer nicht erkannt oder geringgeschätzt. Häufig werde das Unterbringen von Kindern in speziellen Einrichtungen propagiert, obwohl dort schon die Kosten weitaus höher seien.
Pflegekinder sind, wie der Name schon sagt, Kinder, die in Pflege genommen, aber nicht zur Adoption freigegeben sind. Bei den Pflegefamilien gibt es den Status einer befristeten sowie einer unbefristeten Pflege.
Wenn möglich, ist auch ein Kontakt zur leiblichen Mutter gewünscht. Bei Sandra ist das der Fall. Sie denke, die Frau habe vieles richtig gemacht, meint die Pflegemutter auch mit Verweis auf Pauls anscheinend heiterem Wesen. Tanja hat zu den Müttern ihrer beiden jüngeren Pflegekinder keinen Kontakt, aber zu der ihres Ältesten. Dass der Junge zwei Mütter hat, sei für ihn kein Problem, sagt Tanja. „Er kennt es nicht anders“.
Einen detaillierten Überblick zum Thema Pflegekinder gibt es auf www.pflegekinder-berlin.de.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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