Selbsthilfegruppen in Reinickendorf
"Das Gespräch mit anderen in ähnlicher Lage und in geschütztem Raum ist besonders wichtig"
Ina Steinbach ist Koordinatorin im Selbsthilfe- und Stadtteilzentrum Reinickendorf des Unionhilfswerks. In der Einrichtung gibt es rund 30 Gruppen zu Gesundheitsthemen, die sich vor allem auch zu psychosozialen Fragen austauschen. Über die Vielzahl der Angebote sprach mit ihr Berliner Woche-Reporter Thomas Frey.
Ängste, Depressionen, Suchtverhalten, sogar eine Gruppe für Hochsensible findet sich bei Ihnen im Angebot. Ist das ein Zeitphänomen?
Ina Steinbach: Es hat diese Gruppen schon immer gegeben, aber sie sind seit Corona deutlich mehr geworden. Wir haben allein sechs Gruppen, die sich mit dem Thema Depression beschäftigen. Viele Menschen sind in diesen Zeiten verunsichert, suchen Selbsthilfe, den Kontakt mit anderen, denen es ähnlich geht.
Wie läuft so eine Gruppengründung ab?
Ina Steinbach: Menschen kommen zu uns, wenn sie eine Gruppe gründen wollen. Wir unterstützen sie und bringen die Gruppe auf den Weg, indem wir die Räume zur Verfügung stellen. Auf Wunsch sind wir bei den ersten Treffen dabei und helfen beispielsweise beim Abfassen des Aufrufs. Ansonsten organisieren sich die Gruppen selbst. Wir stehen aber für Fragen und Beratung zur Verfügung. Auch, wenn es möglicherweise darum geht, Konflikte zu lösen.
Welche Menschen initiieren solche Angebote, beziehungsweise nehmen sie an?
Ina Steinbach: Insgesamt natürlich solche, die von einem Problem, einer Krankheit betroffen sind und sich darüber mit anderen austauschen möchten. Da gibt es solche, die uns beim ersten Kontakt bereits ihre halbe Lebensgeschichte erzählen und andere, die zunächst eher zurückhaltend sind.
Der erste Schritt dazu ist die eigene Reflexion. Wem beispielsweise nicht selbst klar ist, dass er oder sie ein Alkohol- oder Drogenproblem hat, wird sich wahrscheinlich nicht der entsprechenden Gruppe anschließen.
Das Gespräch mit anderen in ähnlicher Lage und in geschütztem Raum ist dabei besonders wichtig. Gegenseitiges Verständnis kann dabei vorausgesetzt werden. Etwa, wenn sich jemand als hochsensibel ansieht. In seinem sonstigen Umfeld ist das wahrscheinlich eher schwer zu vermitteln. In den Gruppen können sich auch neue Kontakte und Bekanntschaften entwickeln.
Wie verteilen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Alter oder Geschlecht?
Ina Steinbach: Vertreten sind alle Altersgruppen – ältere etwas mehr als jüngere. Eine Depressionsgruppe besteht zum Beispiel ausschließlich aus Seniorinnen und Senioren, was sich aber eher so ergeben hat. Auch zwischen Frauen und Männer besteht kein großer Unterschied. Der persönliche oder berufliche Hintergrund ist ebenfalls ganz verschieden.
Sehen Sie noch Lücken im Angebot?
Ina Steinbach. Ja. Vor kurzem hat sich beispielsweise ein Mann gemeldet, der einen Platz in einer Selbsthilfegruppe zum Thema zwanghaftes Sexualverhalten, etwa Pornosucht, sucht. Obwohl es immer wieder Nachfragen zu solchen Gruppen gibt, kam es leider in der Vergangenheit nicht zu einer Gründung. Ein Grund dafür ist hier wohl in dem Umgang der Gesellschaft mit diesem Thema zu sehen und dem vielfach vermittelten Tabu, darüber „offen“ zu sprechen. Da braucht es nochmal extra viel Mut, um sich dazu zu bekennen.
Was wir bis jetzt auch noch nicht haben ist eine Gruppe, die sich mit den Folgen von Long Covid beschäftigt. In Selbsthilfezentren in anderen Bezirken gibt es sie bereits. Das Beispiel Long Covid zeigt auch, wie sich Angebote zur Selbsthilfe immer wieder ändern, schon, weil wir immer wieder mit neuen Problemen konfrontiert werden. Corona ist dafür das beste Beispiel.
Sie hatten wahrscheinlich auch ganz konkrete Einschränkungen wegen der Pandemie …
Ina Steinbach: Zeitweise konnten sich die Gruppen nicht im Haus treffen. Wir haben natürlich digitale Alternativen angeboten, die aber längst nicht so angenommen wurden, wie die Termine vor Ort. Das mag in einigen Fällen an der Angst vor der neuen Technik gelegen haben. Größtenteils war der Grund aber, dass solche Videokonferenzen natürlich keine annähernd ähnliche Atmosphäre bieten, wie ein Kontakt vor Ort. Es bleibt immer eine Distanz, die völlig offene Gespräche nicht ermöglicht.
Auch im Haus gibt es Einschränkungen, etwa bei den Gruppengrößen. Sie liegt zwar normalerweise zwischen sieben und zehn Personen, aber es gab auch größere bis um die 30. Wir hatten vor Corona eine Selbsthilfegruppe mit Frauen, die an Brustkrebs erkrankt waren. Sie haben sich seit Beginn der Pandemie nicht mehr getroffen. Erst wenn die wirklich vorbei sei, wollen sie wieder kommen.
Wie sehen Sie insgesamt die Rolle des Selbsthilfe- und Stadtteilzentrums?
Ina Steinbach: Als Ort, an den Menschen aus unterschiedlichen Gründen, mit verschiedenen Anliegen, Problemen, auch Notlagen kommen können. Wo sie auch selbstorganisiert Hilfe finden. Darüber hinaus sind wir ein Treffpunkt nicht nur für die Nachbarschaft, sondern für Menschen aus allen Ortsteilen von Reinickendorf.
Das Selbsthilfe-und Stadtteilzentrum, Eichhorster Weg 32 (Sprechzeiten: Di 14-17, Do 14-18 und Fr 11-14 Uhr), Telefon 416 48 42, E-Mail: selbsthilfezentrum@unionhilfswerk.de, www.unionhilfswerk.de/selbsthilfe.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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