Die Bürgermeisterin und ihr Kampf gegen Einsamkeit
Reinickendorf als Vorreiter bei einem gesellschaftlichen Problem
"Einsamkeit hat viele Namen" hieß vor vielen Jahren ein Schlager von Christian Anders. In Reinickendorf lautet der Slogan "Einsamkeit hat viele Gesichter".
Wie berichtet hat der Bezirk im kommenden Doppelhaushalt Geld für die Stelle einer Einsamkeitsbeauftragten oder eines Einsamkeitsbeauftragten eingestellt. Und zwar als bundesweit erste Kommune, die so einen Posten schafft. Denn Einsamkeit entwickle sich zunehmend zu einer gesellschaftlichen Herausforderung, betonte Bürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner (CDU). Das gelte nicht nur, aber besonders für Berlin. Und gerade auch für den Bezirk Reinickendorf.
Die Rathauschefin hatte am 26. September zu einer Pressekonferenz geladen, bei der sie ihren Kampf gegen die Einsamkeit und die Aufgaben der Beauftragten näher erläutern wollte. Der Termin wäre auch wegen des großen überregionalen Interesse für das Reinickendorfer Pilotprojekt angesetzt worden, hieß es im Vorfeld. Vor Ort mehr darüber erfahren wollten aber vor allem Vertreter von Berliner Medien.
Bürgermeisterinnen und Bürgermeister machen sich gern ein Thema zu eigen, das sie mit ihrem Namen verbunden wissen möchten. Manchmal dient das vor allem der eigenen Wahrnehmung oder einem kurzfristigen Trend. Bei Emine Demirbüken-Wegner scheint der Fall etwas anders zu liegen. Das Problem beschäftige und bewege sie seit nunmehr sechs Jahren, machte sie gleich zu Beginn der Pressekonferenz deutlich. Bisher sei es aber nur wenig in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Dabei wäre in Berlin ungefähr jeder zehnte Einwohner von Einsamkeit betroffen.
Niemanden zum Reden
Unterlegt wurden diese Angaben mit Zahlen, Zitaten, persönlichen Erfahrungen. Einsamkeit betreffe zwar alle Altersgruppen, besonders aber Seniorinnen und Senioren. Der Anteil der über 65-Jährigen liege im Bezirk mit ungefähr 23 Prozent über dem Durchschnitt der Stadt, wo es etwa 20 Prozent sind. Zudem werde bis 2030 die Gruppe der Hochaltrigen, wozu Personen ab 85 Jahren zählen, um mehr als 30 Prozent anwachsen. Abgeleitet aus diesen Erhebungen könne davon ausgegangen werden, dass allein in Reinickendorf mehr als 26 000 Menschen unter Einsamkeit leiden. Die Dunkelziffer wäre wahrscheinlich noch um einiges höher. Und durch Problemlagen wie Armut und Altersarmut, instabile Familienstrukturen und gestörte Nachbarschaften werde die Zahl weiter ansteigen.
Zum Unterfüttern dieser Angaben dienten persönliche Einschätzungen von Betroffenen. Der Bezirk hat sie unter anderem durch eine Postkartenaktion unter dem erwähnten Motto "Einsamkeit hat viele Gesichter" erhalten: "Es ist niemand da zum Reden." "Es ist keiner da, der mir zuhört." "Ich habe schon tagelang nicht gesprochen." Auch der seltene oder gar nicht mehr stattfindende Besuch von Angehörigen werde beklagt, der Wunsch nach einer Umarmung geäußert.
Sie habe Menschen kennengelernt, die in ihre Sprechstunden gekommen seien, einfach nur, weil sie mit jemandem reden wollten, berichtete Emine Demirbüken-Wegner. Sie erzählte von Menschen, die Einladungen zum bezirklichen Weihnachtsessen gerne angenommen hätten, weil sie ansonsten keine bekommen haben. Sie habe eine Frau an der Bushaltestelle kennengelernt, berichtete die Rathauschefin, die sei aus Moabit zu einem Treffen nach Reinickendorf gekommen. Ihr Arzt hätte sie darauf hingewiesen.
Einsamkeit macht krank
Eine Geschichte, die bereits einen Lösungsansatz aufzeige. Ärzte, meinte die Bürgermeisterin, wären bei diesem Thema wichtige Mitwirkende und Multiplikatoren. "Einsamkeit macht krank." Sie führe zu Diabetes und Fettleibigkeit, "Menschen können daran sterben". Aber statt Medizin sollte ihnen "gesellschaftliche Teilhabe" verschrieben werden. In Japan oder Großbritannien werde das bereits praktiziert.
In den Arztpraxen seien häufig Menschen anzutreffen, die auch in Sachen Einsamkeit bisher kaum im Fokus stehen. Nämlich solche mit Migrationsgeschichte, vor allem die sogenannten Gastarbeiter der ersten Generation. Gerade bei ihnen gebe es noch häufig die Vorstellung, sie würden durch Familienstrukturen aufgefangen. Das sei schon deshalb falsch, weil die meisten ihr Altwerden in Deutschland so nie geplant hätten. Sie seien auch eher selten in den vorhandenen Strukturen anzutreffen, etwa in Senioreneinrichtungen. Für diese Personen brauche es eine andere Ansprache, etwa durch eine interkulturelle Begegnungsstätte.
Es gibt also bereits Problembeschreibungen und einige Ideen. Es gibt verschiedene Organisationen, Vereine, Träger, die in diesem Bereich unterwegs sind. Alles wichtige Akteure, sagt die Bürgermeisterin. Aber was jetzt nötig sei, wäre jemand, der die Aktivitäten bündle, koordiniere. Anregungen gebe, Konzepte erstelle, darüber informiere, Kampagnen organisiere, das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung halte. Kurzum: den Einsamkeitsbeauftragten.
Braucht es eine bezahlte Stelle?
Das Vorhaben passierte die Haushaltsberatungen und wurde vor allem von der CDU als besonderes Augenmerk im künftigen Doppeletat hervorgehoben. Abseits davon gab es aber auch kritische Anmerkungen. Das Problem Einsamkeit wurde nicht negiert, es wurde aber hinterfragt, ob dafür ein extra eingerichtetes Beschäftigungsverhältnis nötig sei. Bereits 2022 habe Demirbüken-Wegner, damals noch als Sozialstadträtin, Geld für einen Einsamkeitsgipfel bewillig bekommen. Würde ein solches Forum nicht als Vernetzungsplattform ausreichen?
Einen weiteren Einsamkeitsgipfel wird es 2024 geben, sagte die Bürgermeisterin. Auch dessen Vorbereitung ist dann eine Aufgabe des Einsamkeitsbeauftragten. Der Posten soll ausstrahlen, Beispiel geben, auch auf Landesebene bewirken, dass dem Thema größere Bedeutung beigemessen wird.
Die Ausschreibung datiert bis zum 6. Oktober. Vorgesehen ist ein Arbeitsbeginn Anfang kommenden Jahres. Die Stelle wird nach E11-Besoldung für den öffentlichen Dienst vergütet, was, je nach Werdegang, ein monatliches Gehalt zwischen ungefähr 3600 und bis zu 5400 Euro bedeutet. Erwartet wird mindestens ein abgeschlossenes Fachhochschulstudium im Studiengang Kommunikationswissenschaften verbunden mit Minimum zweijähriger Berufserfahrung in sozialen Bereichen. Das seien halt die Voraussetzungen, die in einer Ausschreibung stehen müssten, meinte Emine Demirbüken-Wegner. Darüber hinaus sei für sie etwas anderes besonders wichtig: "Empathie und Herz".
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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