„Viele Menschen sind nicht angekommen“
30 Jahre Deutsche Einheit: Marlitt Köhnke hat die politischen Veränderungen hautnah miterlebt
Marlitt Köhnke (67) ist ein Urgestein der Bezirkspolitik. Seit 30 Jahren mischt sie in der Kommunalpolitik mit. Nach der Wende war sie zwei Jahre lang Bürgermeisterin von Hellersdorf, später von 2002 bis 2006 Stadträtin. Für die SPD sitzt die 67-Jährige noch heute in der Bezirksverordnetenversammlung. Berliner-Woche-Reporter Philipp Hartmann hat mit ihr über das 30. Jubiläum der Deutschen Einheit gesprochen.
Sie sind im Oktober 1989 kurz vor dem Mauerfall in die neugegründete SDP (Sozialdemokratische Partei in der DDR) eingetreten. Was wollten Sie erreichen?
Marlitt Köhnke: Ich will nicht sagen, dass ich schlecht in der DDR gelebt habe, aber ich wollte natürlich Veränderungen, eine demokratische DDR. Für mich war zum Beispiel ein Auslöser, dass der Reiseverkehr nach Ungarn und Polen eingeschränkt wurde. Da habe ich dann gedacht: Nein, ich lasse mich hier nicht wieder einmauern. Reisefreiheit war für mich wichtig. Aber natürlich auch, dass nicht alles von oben bestimmt wird, dass man sich einbringen und mitbestimmen kann.
Haben Sie zu diesem Zeitpunkt bereits geahnt, dass die DDR kurz vor der Auflösung stand?
Marlitt Köhnke: Nein, überhaupt nicht. Dass die Mauer fallen würde, obwohl es dann einen Monat später passiert ist, war so fern, also daran habe nicht geglaubt. Mit großer Skepsis habe ich erstmal die Feierei auf der Mauer gesehen, muss ich ehrlich sagen. Ich habe in Pankow gearbeitet, mein Übergang war Wollankstraße beziehungsweise Bornholmer Brücke, und habe gedacht: Nee, also da gehst du erstmal nicht rüber. Das Begrüßungsgeld hat aber doch gelockt. Ich bin froh, dass ich so reinwachsen konnte in diese neue Gesellschaft und ein anderes System kennengelernt habe.
Welche Hoffnungen hatten Sie nach der Wiedervereinigung für die Zukunft Ihres Heimatbezirks?
Marlitt Köhnke: Ich hatte schon die Hoffnung, dass das Leben hier im Bezirk besser wird. Die Großsiedlung Hellersdorf war nicht fertiggebaut. Die U-Bahnen fuhren nur bis Elsterwerdaer Platz. Dann musste man in den Bus einsteigen. Und wenn man aus dem Bus ausgestiegen ist, musste man Gummistiefel angezogen haben, weil man im Matsch stand. Die Schulen waren nicht fertig. Es gab, glaube ich, nur zwölf Kaufhallen im Bezirk. Die Versorgung der Bevölkerung war im Bezirk nicht zu sichern. Und es gab kein Telefon. Es hieß immer: „Es liegen gar keine Leitungen, wir können gar keine Telefone schalten.“ Aber als ich Bürgermeisterin wurde, war ich nachher die Einzige im ganzen Kiez, die auf einmal ganz schnell ein Telefon hatte. Kommunalpolitisch gab es genug zu tun, und es ist auch sehr viel passiert.
Hellersdorfer Bürgermeisterin waren Sie von 1990 bis 1992. Was haben Sie in der Zeit erreicht und welche politischen Ziele verfolgen Sie heute?
Marlitt Köhnke: Eines kann ich sagen: Die Helle Mitte habe ich mit auf den Weg gebracht. Damals war dort gar nichts. Letztlich waren wir überhaupt erstmal froh, dass es dort einen Investor gab. Ich wollte, dass Hellersdorf ein richtig schöner Wohnort wird. Das schafft man nicht in zwei Jahren. Letztendlich aber ist es so, dass heute – und das sage ich wirklich mit Überzeugung – die Großsiedlungen, sowohl in Marzahn als auch Hellersdorf, für Familien wirklich sehr gute Wohnorte sind. Mit dem Grün, dass man hier Radfahren und wandern kann, die Gärten der Welt. Es ist wirklich ein schöner, familienfreundlicher Bezirk. Heute setze ich mich dafür ein, dass die Radverkehrsinfrastruktur weiter verbessert wird. Auch für die Kultur kämpfe ich nach wie vor.
Wie haben Sie ganz persönlich das Zusammenwachsen der geteilten Stadt in diesen 30 Jahren erlebt?
Marlitt Köhnke: Ob man hier am Ost-Stadtrand von Zusammenwachsen sprechen kann, weiß ich nicht. Ich weiß, dass uns die Westberliner Verwaltung sehr viel geholfen hat. Womit ich ein großes Problem hatte, als ich Schulstadträtin war: dass unter Rot-Rot hier Schulen und Kitas abgerissen wurden. Heute fehlt uns diese Infrastruktur. Und wer glaubt, dass die Menschen das vergessen haben, der irrt sich.
Was hat sich am politischen Umfeld verändert? Was ist heute anders als damals?
Marlitt Köhnke: Also, dass eine rechtspopulistische Partei wie die AfD hier genauso viele Stimmen bekommt wie Die Linke, beschäftigt mich schon sehr. Ich komme mir manchmal vor wie in einer Diaspora als jemand, der die Demokratie wollte, Demokratie gekriegt hat und jetzt in einem Umfeld lebt, wo viele die Demokratie eigentlich gar nicht wollen.
Wie lässt sich diese Entwicklung aufhalten?
Marlitt Köhnke: Indem sich die Lebensverhältnisse wieder für alle gleich verbessern. Man kann ja über die DDR reden, was man will, aber wir waren mehr oder weniger alle gleich arm oder gleich reich. Heute hat sich das so ausdifferenziert. Es sind viele Menschen nicht in diesem System angekommen. Die sind mit ihrem Denken, ihrem Fühlen und mit der Arbeit oder Nicht-Arbeit stehengeblieben. Und das ist für meine Begriffe der Boden, aus dem die AfD schöpft.
Autor:Philipp Hartmann aus Köpenick |
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