Viel Nachholbedarf bei Barrierefreiheit
Stephan Heinke ist blind und berichtet von seinem Alltag in Berlin
Elf Jahre alt sei er gewesen, als sich seine Sehkraft zu verschlechtern begann, erinnert sich Stephan Heinke. Wegen einer Netzhauterkrankung verlor er innerhalb weniger Jahre sein Augenlicht. Wer es selbst nicht erlebt hat, kann nur spekulieren, wie schwer es sein muss, mit einem solchen Einschnitt zurechtzukommen. Stephan Heinke erzählt jedoch eher nüchtern von seiner Vergangenheit.
Als Kind und Jugendlicher sei es für ihn nicht so schwierig gewesen, dieses Schicksal zu akzeptieren. „Das Gehirn versucht, das auszugleichen. Es ist eine Art Verdrängung, Nicht-Beachten“, erklärt er. Über sein Leben sagt der heute 40-Jährige: „Es hätte sicherlich besser laufen können.“ Dennoch wirkt er alles andere als unzufrieden. Regelmäßig besucht er einen Aikido-Kurs, eine japanische Kampfkunst. Er mag Musik, Netflix, Hörbücher und Podcasts. Mit Freunden trifft er sich gern zu Spieleabenden oder zum Tanzen. Außerdem geht er oft ins Kino und ist Fan von Borussia Dortmund. Beim Derby gegen Schalke war er einmal sogar im Stadion. Damit Blinde dem Geschehen auf dem Rasen folgen können, bieten Fußballklubs Audiodeskription an. Diesen Service gibt es laut Stephan Heinke inzwischen auch bei Aufführungen in verschiedenen Theatern und Opern in Berlin. Ein speziell ausgebildeter Sprecher schildert dabei detailliert das Geschehen auf der Bühne.
Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist für Sehbehinderte und Blinde dadurch leichter geworden. Der technische Fortschritt hat zudem die Kommunikation vereinfacht. „Viele Blinde haben heute ein Smartphone. Dass ein Touchscreen für uns nutzbar ist, war vor zehn Jahren noch nicht vorstellbar.“ Wenn er seinen Zeigefinger über das Display seines Handys führt, hilft eine elektronische Stimme bei der Navigation. Sie liest auch die Buchstaben vor, wenn Stephan Heinke Nachrichten schreibt. Den Bildschirm hat er dauerhaft schwarz gestellt. „So hält der Akku länger und die Leute in der Bahn können nicht mitlesen.“ In seiner Wohnung hilft Sprachassistent „Alexa“. E-Mails lässt er sich mithilfe einer Software vorlesen. Beruflich kümmert sich Heinke, der Kommunikationswissenschaft studiert hat, selbst darum, Blinden den Alltag zu erleichtern. Als freiberuflicher Accessibility Consultant, zu Deutsch Berater für Barrierefreiheit, führt er Smartphone-Schulungen durch, erstellt gemeinsam mit einem sehenden Kollegen Audiodeskription für Serien und Filme und arbeitet an Apps und Internetseiten, die an die Bedürfnisse von Blinden angepasst sind. Das seit November im Haus der Gesundheit und Familie in Mariendorf erstmals in einer Behörde eingesetzte System „everGuide“, das Menschen mit Behinderung zum gewünschten Raum navigiert, ist für ihn ein „wichtiger Schritt“.
Aufs Hören angewiesen
Trotz dieser positiven Entwicklungen macht Stephan Heinke auch viele negative Erfahrungen. Hinsichtlich der baulichen Barrierefreiheit sieht er in Deutschland viel Nachholbedarf. An etlichen Bahnhöfen seien die Blindenleitsysteme „unterirdisch“. Nur zwei von drei Ampeln in Berlin seien mit akustischen Signalen ausgestattet. An den restlichen müsse er sich allein auf sein Gehör verlassen. Manchmal gehe auch der Ton bereits nach wenigen Sekunden wieder aus, während er sich noch mitten auf der Straße befindet. Dadurch könne er in „höchstgefährliche Situationen“ geraten. Sein Blindenstock sei schon mal überfahren worden. Schwer machen es ihm außerdem Radfahrer auf dem Gehweg und seit Sommer auch noch die E-Scooter. Darüber hinaus ärgert er sich über die Menschen. „Es kommt selten vor, dass Leute fragen, ob sie mir helfen können. Stattdessen erlebe ich oft, dass mir Hilfe aufgedrängt wird, wo es gar nicht erforderlich wäre. Ich bin schon bei Grün über die Straße geschoben worden, obwohl ich gar nicht in die Richtung wollte.“ Immer wieder bekomme er auch „dumme Kommentare“ zu hören. Neulich habe eine Frau zu ihm gesagt, er hätte mit seinem Stock ein Kind geschlagen. „Was soll ich denn machen? Das ist nun mal mein Hilfsmittel.“
Stephan Heinke hat sich an all das gewöhnt. Dennoch sagt er: „Natürlich würde ich gerne wieder sehen können.“ Er ist sicher, dass er es eines Tages auch wieder können wird. Gentechnik, Netzhautchips und Netzhauttransplantationen machen ihm Hoffnung. „Ich bin überzeugt, dass ich nicht blind von dieser Welt gehe.“
Autor:Philipp Hartmann aus Köpenick |
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