Parkplätze wichtiger als Verkehrssicherheit?
In Friedenau ignorieren SPD, CDU und FDP das Mobilitätsgesetz
Das Netzwerk Fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg verurteilt SPD, CDU und FDP für ihren Umgang mit der geplanten Fahrradstraße in der Friedenauer Handjerystraße. Das Netzwerk kritisiert das gegenseitige Ausspielen der schwächeren Verkehrsteilnehmenden zum Schutz von Parkplätzen. Zugleich würden mit grotesken Behauptungen bindende Bestimmungen aus dem Mobilitätsgesetz und dem dazugehörigen Radverkehrsplan über den Haufen geworfen worden. Das Netzwerk wird vor der Sitzung der BVV am 19.10.2022 um 16:30 Uhr gegen dieses Vorgehen protestieren.
In der Sitzung des Tempelhof-Schöneberger Verkehrsausschusses am 13.10. wurden erneut die Planungen zur Umwandlung der Handjerystraße in eine Fahrradstraße besprochen. Kurz vor der Umsetzung wurde jetzt ein Antrag von SPD und FDP von der Ausschussmehrheit angenommen, der Kfz-Parkplätze schützen soll, eine zusätzliche Lichtsignalanlage fordert, Behindertenparkplätze mit kürzestmöglichen Wegen zu den Hauseingängen fordert und als Ersatz für den entfallenden verkehrsberuhigten Bereich Maßnahmen wie Bremsschwellen, Geschwindigkeitsbeschränkung 10 km/h, Rechts-vor-Links-Vorfahrtregelung verlangt.
„Was zunächst unterstützenswert klingt, stellt sich bei genauerer Betrachtung als vergifteter Antrag dar. Mit eigenmächtigen Regelaufweichungen führt er einerseits zu einer unsicheren Fahrradstraße. Es soll zwar noch Fahrradstraße drauf stehen, aber es ist nicht mehr Fahrradstraße drin. Andererseits wird die Umsetzung wegen des Umplanens auf die lange Bank geschoben. Die Belange des Fußverkehrs wirken nur vorgeschoben und die schwächeren Verkehrsteilnehmenden werden gegeneinander ausgespielt”, kritisiert Jens Steckel vom Netzwerk Fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg. Er hebt hervor, dass in der Planung des Bezirksamts für den Fußverkehr viele Verbesserungen vorgesehen sind. So sollen 14 Querungen mit kurzen Wegen, guten Sichtbeziehungen und Maßnahmen gegen das Falschparken geschaffen werden. Auch diese würden nun verzögert.
Die Handjerystraße ist Teil des berlinweiten Radverkehrsnetzes. Dort sollen insbesondere Kinder, Jugendliche, Ältere und andere unsichere Radfahrende sicher und entspannt mit dem Fahrrad voran kommen können. Welche Vorgaben dabei gelten, regelt der vom Senat als Rechtsverordnung erlassene Radverkehrsplan.
Für eine Fahrradstraße im Begegnungsverkehr ist demnach eine Fahrbahnbreite von 4 Metern zuzüglich eines weiteren Sicherheitsabstands zu parkenden Autos vorzusehen. Diese Breite ist nötig, damit beispielsweise eine Mutter trotz Gegenverkehr sicher neben ihrem Kind fahren kann. Südlich des Renée-Sintenis-Platz bis zur Bundesallee kann das nur dadurch sicher erreicht werden, dass die Längsparkplätze entfallen, weil die dort verbleibenden Senkrechtparkplätze einen größeren Schutzabstand zum Rangieren erfordern. Nochmals höhere Qualitätsvorgaben für Radverkehrsanlagen gelten für den Abschnitt zwischen Schmiljanstraße und Bundesallee, weil er zum Radvorrangnetz gehört.
„Ausgerechnet im Bereich des Vorrangnetzes gilt: Nichtstun und trotzdem Fahrradstraße dranschreiben. Die Autoflächen erhalten Bestandsschutz und der Radverkehr muss nehmen, was übrig bleibt. Beschlossene Standards werden zu unverbindlichen Kann-Regelungen degradiert. Zusätzlich werden die gesetzlichen Vorgaben zur Lösung von Konfliktfällen pauschal begraben unter der grotesken Behauptung, weniger Autoabstellplätze bedeuteten mehr Autoverkehr. Das bringt das Fass zum Überlaufen. Wenn das der neue Standard ist, wie mit dem Mobilitätsgesetz und dem Radverkehrsplan umgegangen wird, dann ist die Mobilitätswende in Berlin tot. Das werden wir nicht zulassen und deshalb werden wir vor der BVV-Sitzung am 19.10.2022 auf die Einhaltung des Mobilitätsgesetzes bestehen“, stellt Stefan Meißner vom Netzwerk klar.
Ausschlaggebend für den Parkplatzschutz ist gemäß Pressemitteilung der SPD-Fraktion ein Ein- und Aussteigebereich für eine Einrichtungen für Senior*innen und Menschen mit Demenz sowie ein dort bestehender Behindertenparkplatz.
„Ein Stellplatz für ein Auto und ein Aussteigebereich sollen es rechtfertigen, zweimal 160 Meter Straßenlänge zum Parken für die Allgemeinheit freizugeben? Das ist absurd. Hier wird ein diskussionswürdiger Punkt zur Trittbrettfahrerei genutzt, um im Südabschnitt die Umgestaltung der Straße insgesamt zu blockieren. Darunter leidet nicht nur der Radverkehr, sondern auch Kindern wird weiterhin freie Sicht vorenthalten, wenn sie die Straße queren wollen. Es ist purer Zynismus, diese Gefährdungen auch noch unter der Überschrift „Schutz für Kinder und Schüler sicherstellen“ zu verkaufen“, empört sich Claudia Thiele vom Netzwerk Fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg.
Im Abschnitt nördlich des Renée-Sintenis-Platz kann die Fahrradstraße nur dann mit den nötigen Sicherheitsabständen eingerichtet werden, wenn nur noch auf einer Seite Autos abgestellt werden können. Dies sehen die Planungen des Bezirksamts auch vor, wobei die Seiten je nach Straßenabschnitt zur Verkehrsberuhigung wechseln sollen. Der beschlossene Antrag fordert jetzt auch in diesem sehr engen Abschnitt Behindertenparkplätze auf der Straßenseite des jeweiligen Ziels.
„Menschen mit Behinderungen gehören zu denjenigen, die auf ein Auto angewiesen sein können, und die deshalb bevorzugt nahe Abstellflächen erhalten müssen. Aber auch diese Abstellflächen dürfen keine Dritten gefährden. Die Formulierung des Antrags birgt die Gefahr, dass doch wieder auf beiden Seiten der schmalen Straße Autos stehen werden. Es ist jedoch bekannt, dass gerade unsichere Radfahrende wie Kinder oder Senioren sehr dicht an parkenden Autos vorbeifahren und deshalb in großer Gefahr sind, von plötzlich geöffneten Autotüren getroffen zu werden. Andere Menschen mit Behinderungen müssen die angesprochenen sozialen Einrichtungen zu Fuß erreichen und brauchen deshalb vor allem gute Sichtbeziehungen. Alle diese Anliegen sind berechtigt und mit Einzelfalllösungen in Einklang zu bringen. Es verbietet sich, sie pauschal gegeneinander auszuspielen“, sagt Stefan Meißner.
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