100 Jahre Groß-Berlin: Reinickendorf hätte beinahe „Tegelstadt“ oder „Humboldtstadt“ geheißen
Natur und Industrie - Ein Bezirk der Gegensätze
Als die Gründung Groß-Berlins im April 1920 beschlossen und im Oktober desselben Jahres umgesetzt wurde, entstand auch der damals 20. Bezirk Berlins: Reinickendorf.
Zuvor war Reinickendorf eine Landgemeinde gewesen, wie seine Nachbarn auch, die ebenfalls in den 20. Bezirk Berlins eingingen: Heiligensee, Hermsdorf, Lübars, Rosenthal-West, Tegel und Wittenau. Dazu kamen noch die Gutsbezirke Tegel-Forst, Tegel-Schloss, Frohnau und Jungfernheide-Nord.
Dass all diese Orte zum Bezirk Reinickendorf wurden, war eher Zufall. Reinickendorf sollte zunächst nur eine Übergangslösung sein, ernsthaft diskutiert wurden als Bezirksnamen noch 1921 „Tegelstadt“ und „Humboldtstadt“. Die Argumente der Debatte sind heute schwer nachzuvollziehen. Vielleicht versprachen sich die Tegel-Befürworter mehr Popularität, denn schon lange vor 1920 stand der Spruch „Mit Kind und Kegel raus nach Tegel“ in Berlin für die Möglichkeiten, sich im Wald oder am Tegeler See von Hektik und Beengtheit der Großstadt zu erholen. Die Humboldtianer spekulierten vielleicht darauf da die Wissenschaftler Alexander und Wilhelm von Humboldt in aller Welt bekannt waren, dies auch dem Ruhme des Nordbezirks dienen könnte.
Borsigwalde erinnert
an die Maschinenfabrikanten
Dann blieb es doch bei Reinickendorf, dessen letzte Silbe wie andere Ortsteile auch auf die ländliche Struktur des nördlichen Berlins verwiesen. Allerdings war diese 1920 vielerorts schon lange Vergangenheit. 1898 nahmen die Söhne von Albert Borsig, Ernst, Arnold und Conrad eine riesige Fabrik in Tegel in Betrieb, in der Dampfmaschinen, Lokomotiven und Kältemaschinen produziert wurden. Schon vier Jahre später feierte man die Auslieferung der 5000. Lok. Die Borsig-Brüder brachten nicht nur Eisen und Stahl mit, sondern auch ihre Arbeiter. Nahe der Fabrik entstanden Werkswohnungen. 2012 würdigte der Bezirk Reinickendorf diese Vergangenheit, indem er Borsigwalde zum offiziellen Ortsteil machte.
In Tegel blieben Natur und moderne Technik aber weiter verbunden. Schon 1922 bekam Berlin sein erstes Hochhaus, den 65 Meter hohen Borsigturm, der ab 1924 die Verwaltung der Borsigwerke beherbergte.
Kurzes Flugvergnügen in Heiligensee
Auch eine andere Landgemeinde konnte mit moderner Technik aufwarten. Am 19. Juli 1911 hob erstmals ein Flugzeug vom „Flugplatz Schulzendorf“ in Heiligensee am heutigen Bekassinenweg ab. Allerdings hatten die Flieger noch ihre Startschwierigkeiten. Der Heimatforscher Klaus Schlickeiser berichtet davon, dass viele Flugzeuge nicht aufstiegen, weil die verwendeten Automotoren zu schwer waren für die Flugzeuggestelle aus Bambusrohr und die Tragflächen aus Leinwand. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs endete dann auch die Fliegerei in Heiligensee.
Moderne Verkehrstechnik hatte Heiligensee gleichwohl dauerhaft zu bieten. 1913 wurde etwa der Pferdeomnibus von der Straßenbahn abgelöst.
Ein Rathaus für 650.000 Mark
Bezirke in einer Großstadt brauchten ein eigenes Rathaus. Für Reinickendorf bot sich das von Wittenau an. 1911 hatte die Landgemeinde den Bau bezogen, der am Treffpunkt der damaligen Charlottenburger Straße (heute Eichborndamm) und der Spandauer Straße (heute Am Rathauspark) lag. Die Gesamtkosten für den Bau lagen bei 650.000 Mark, inklusive der Innenausstattung. Die Wittenauer hatten ihn weitgehend über Kredite finanziert. Das Sagen im Rathaus hatte übrigens Paul Witte, Sohn des einstigen Ortsvorstehers Peter Witte, dem Wittenau seinen Namen verdankt.
Die Umgebung des in den 1950er Jahren erweiterten Rathauses Reinickendorf zeigt übrigens bis heute das Spannungsfeld zwischen Stadt und Land, in dem sich die ehemaligen Landgemeinden befanden und in dem sich heute noch der Bezirk Reinickendorf befindet. Direkt gegenüber vom Rathaus befindet sich eine große Wiese. Noch in den 1960er Jahren war sie ein Acker, der von der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik bewirtschaftet wurde.
Im Norden gab es weniger Kritik
Die ehemaligen Straßennamen am Rathaus verweisen auf die damaligen Nachbarstädte der Landgemeinden, auf Charlottenburg und Spandau. Und während dort die Eingemeindung nach Berlin eher skeptisch gesehen wurde, verhielt es sich im Norden anders. Zwar wurde zu Beginn des Jahrhunderts in Tegeler Zeitungen vor Berliner Begehrlichkeiten gewarnt. Doch die meisten Nordberliner wussten einheitliche Strom- und Wasserversorgung und gemeinsam geplante Straßen und Schienenwege durchaus zu schätzen.
Autor:Christian Schindler aus Reinickendorf |
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