Wie mit den Bezirksbibliotheken weiter? – Teil 20*
Bibliotheksentwicklungsplan Charlottenburg-Wilmersdorf – Eine Kritik
Mit einer Ergänzung vom 18.9.2020 (Antwort des Bezirksamtes)
Siehe auch "Stellungnahme zum Rahmenkonzept für die Bibliotheksentwicklungsplanung Berlin"
Diese Kritik beschränkt sich, der Lesbarkeit wegen, im 1. Teil auf die Prämissen des Bibliotheksentwicklungsplans für Charlottenburg-Wilmersdorf (BEPl C-W), greift im 2. Teil einige wichtige Punkte heraus (weitere Punkte müssen einem späteren Beitrag vorbehalten bleiben) und schließt im 3. Teil mit unseren wichtigsten Alternativen.
Bezirksstadträtin H. Schmitt-Schmelz (SPD) hat den vom Fachbereichsleiter A. Imhof erstellten und am 9.6.2020 vom Bezirksamts-Kollegium (1) einstimmig beschlossenen BEPl C-W vorgelegt, dessen Deckblatt geschmückt ist „mit dem bunt befiederten Ara-Papageien, der später in einem partizipativen Prozess den Namen ‚Krex‘ erhielt“ (49)**. Mit ihm werden endlich jahrzehntealte Defizite im Bezirk wie mangelhafte Publikumsfläche und zu geringes Personal angepackt, und bei der Erhöhung des Erwerbungsetats ist ein erster Erfolg zu verzeichnen.
1. Prämissen des Bibliotheksentwicklungsplans
a) Aarhus, Helsinki und Oslo als Vorbilder
Ein Bibliotheksentwicklungsplan sollte mit einer Bestandsaufnahme beginnen, um dann zu untersuchen, in welchem Verhältnis dieses Angebot zur Nachfrage steht, um daraus Folgerungen zu ziehen. Diesen methodisch korrekten Weg sind die Hamburger Bücherhallen bei ihrem Bibliothekskonzept gegangen. Der BEPl C-W hingegen macht gleich im ersten Satz deutlich, dass er ein anderes Ziel verfolgt: „Im internationalen Vergleich hinken die meisten Bibliothekskonzepte in Deutschland – beispielsweise denen aus Skandinavien, den Niederlanden, UK, USA oder Frankreich – weit hinterher.“ (9) Also nicht die tatsächlichen Nutzer, ihre Wünsche und ihre Nachfrage sind hier der Ausgangspunkt, sondern – von oben herab – „Konzepte“ von Bibliotheksmachern. Folgerichtig kommen auf den 94 Seiten des BEPl C-W „Nachfrage“ und „Wunsch“ nur viermal vor, „Angebot“ aber hundertmal. Diese Stadtbibliothek der Zukunft ist nicht die Bibliothek der Nutzer, sondern die Bibliothek derjenigen, die das Sagen über sie haben. Folglich kennt der BEPl C-W auch nur einen „intern geführten Entwicklungsprozess des Bibliotheksprofils“ (26).
Als Konzept-Vorbilder werden die Vorzeigebibliotheken von Aarhus, Helsinki und Oslo kurz angerissen (9ff.), wobei vorrangig auf das hingewiesen wird, was nur in Grenzen mit einer Bibliothek zu tun hat: als Ort von Bürgeraktivitäten aller Art, als Treffpunkt, Spiel- und Bastelstätte, als Büro und Ort für Sozialreparaturen (19f.), als Verleihort für elektronisches Informations-Zubehör uvm. Mit diesen bloßen Verweisen – ohne inhaltliche Begründung – wird die Ausrichtung der bezirklichen Bibliotheken festgelegt. Zwar deutet der BEPl C-W an, dass diese drei Bibliotheken nur einen Bruchteil der dortigen Bibliothekslandschaft ausmachen, aber er verkennt völlig die zentraler Bedeutung, die Bücher und andere Medien und deren Ausleihe (auch) für skandinavische Bürger haben, wie eine Analyse der letzten zehn Jahre zeigt: Die Ausleihzahlen der Nichtbuchmedien sind meist stark gesunken, die der Bücher nur minimal, meist in Verbindung mit einer Bestandsreduktion; E-Medien kommen nur auf einen geringen Teil der nationalen Gesamtausleihe. Zu recht faßt die Frankfurter Allgemeine ihre Besprechung der jüngst eröffneten Deichman-Bibliothek in Oslo so zusammen: „In Europas modernster Bücherei wird gezeigt, wie man Treffpunkt sein kann, ohne die Bücher zu vernachlässigen.“ (16.7.2020)
b) Zur Erinnerung: Was wünschen sich Bibliotheksnutzer wirklich?
Aus repräsentativen Umfragen ist bekannt, dass die Bevölkerung insgesamt und Bibliotheksnutzer insbesondere sich in erster Linie Bibliotheken wünschen, die „ein umfangreiches Angebot an Büchern, E-Books, Zeitschriften, Musik, Filmen usw. haben“ (2). Dieser Wunsch steht klar an erster Stelle. Hingegen heißt es über die letzten Plätze der „Idealvorstellungen von einer öffentlichen Bibliothek“: „Kaum von Interesse sind für die Bevölkerung Computerspiele, die man auch direkt in der Bibliothek ausprobieren kann, sowie besonders innovative technische Angebote, wie zum Beispiel 3D-Drucker oder digitale Tonstudios.“ (3) Buchausleihen in öffentlichen Bibliotheken sind in den letzten zehn Jahren weitgehend stabil geblieben. (4) Auch Kinder nutzen gern gedruckte Medien, ebenfalls Jugendliche. (5)
Die Befürworter der BEPl C-W mögen sich also darüber im klaren sein, dass die Umsetzung dieses Konzepts nicht mit dem übereinstimmt, was die Nutzer (und Finanziers!) von ihrer Bibliothek erwarten. Diese Diskrepanz ist übrigens auch dem Verfasser des BEPl C-W bewußt, wie der Abschnitt „Kommunikationskonzept“ (49-54) ausführlich zeigt.
c) BEPl C-W 2020 als Instrument zur Besserung unserer Gesellschaft?
Dem Text vorangestellt ist eine Einleitung (7f.), in der unsere Gesellschaft in Schlagworten beschrieben wird als Ort von „Herausforderungen, die durch den demographischen, digitalen und klimabedingten Wandel hervorgerufen werden“, wozu noch „die sich zuspitzende Spaltung zwischen Arm und Reich“, „der aufkommende Populismus, die Radikalisierung einzelner Bevölkerungsgruppen und weitere Unsicherheit verbreitende Tendenzen“ hinzukommen. Darauf aufbauend wird postuliert, dass „die strategische Bedeutung der Stadtbibliothek in Charlottenburg-Wilmersdorf“ darin bestehe, „sich im kommunalen Auftrag diesen Herausforderungen zu stellen“. Hierbei sei „die Stärkung der Bibliotheken eine politisch zielführende Maßnahme, gesellschaftliche Spannungen aufzulösen“, wozu „vor allem auch eine digitale Strategie für die Bevölkerung notwendig“ sei. Damit seien „die gesellschaftlichen Funktionen Öffentlicher Bibliotheken in Anbetracht der aktuellen Herausforderungen“ festgelegt.
Es ist schwer vorstellbar, wie die Stadtbibliothek C-W die gesellschaftlichen Spannungen, die z.B. durch die Spaltung der Gesellschaft in arm und reich entstanden sind, „auflösen“ könnte. Aber darum geht es dem BEPl C-W wohl nicht, denn er kommt hierauf später nie wieder zu sprechen. Ganz anders mit dem daraus abgeleiteten Gegenmittel, wonach nämlich „vor allem auch eine digitale Strategie für die Bevölkerung notwendig“ sei, weswegen die heutigen Bibliotheken – hier gebrandmarkt als „unzeitgemäße, rückständige Bücher-Ausleihstationen“ (6) bzw. „ausschließliche Bestandsinstitutionen“ – ausgedient hätten.
d) Anmerkungen zur „Digitalisierung“
Das häufig (hier hundertzwölfmal) verwendete Schlagwort „Digitalisierung“ ist in seiner Pauschalität ungeeignet, um die Aufgaben von öffentlichen Bibliotheken im Bereich der virtuellen Medien zweckmäßig zu bestimmen.
Die öffentlichen Bibliotheken müssen ihren exklusiven Kernbereich, nämlich die Buchwelt (siehe unten 3.a), um die relevanten digitalen Ressourcen ergänzen, damit den Nutzern ein vollständiges Angebot des aktuellen Wissensstandes ihrer jeweiligen Interessengebiete garantiert werden kann. Entscheidend ist dafür, dass die öffentlichen Bibliotheken die inhaltliche Erschließung und Vermittlung dieser digitalen Ressourcen ins Zentrum ihrer Arbeit mit virtuellen Medien stellen. Zu diesem Zweck muß selbstverständlich die digitale Infrastruktur auf dem neuesten Stand sein, um online oder vor Ort verläßlichen Zugang zu den digitalen Ressourcen zu ermöglichen. Der derzeitige Katalog des VÖBB ist dafür völlig unzureichend und ein großes Defizit bei der Nutzung der Berliner öffentlichen Bibliotheken. Hier liegt die wesentliche Aufgabe der Digitalisierung im Bibliotheksbereich: Weiterentwicklung des traditionellen Online-Katalogs zur umfassenden Suchmaschine, die thematische Quellen verschiedener Formate erschließt und verknüpft (Discovery-System, Recommender-System).
Der Einsatz digitaler Technik und virtueller Medien in öffentlichen Bibliotheken muß sich immer dem eigentlichen Zweck der Bibliotheken unterwerfen, der Emanzipation des einzelnen. Die Bibliothek darf nicht dazu mißbraucht werden, das Publikum nach den Wünschen von Interessengruppen zu funktionalisieren, denn „digitale Bildung“ gibt es nicht; es gibt nur Bildung – wohlgemerkt auch mit digitalen Mitteln.
Die Einleitung sowie die ersten Seiten von Kapitel 1 dienen dem Verfasser des BEPl C-W dazu, mithilfe des bloßen Hinweises auf drei skandinavische Vorzeigebibliotheken und der plakativen Aufzählung von verschiedenen „gesellschaftlichen Spannungen“, ohne jegliche argumentative Unterfütterung, die zukünftige Ausrichtung der Bibliotheken nach seinem vorgefaßten Konzept festzulegen: weg von Bestandseinrichtungen, in denen insbesondere Bücher und andere Medien eine zentrale Rolle spielen, hin zu bezirklichen Serviceinstitutionen mit Schwerpunkt „Digitalisierung“; dazu noch „Volkserziehung“ im Auftrag der Bezirksverwaltung.
2. Einzelne Punkte
a) Umfang des Bestandes
Zu Recht weist der BEPl C-W auf den bisher viel zu geringen Erwerbungsetat hin. Wenn es jedoch heißt, von 2003 bis 2017 seien „durch den jahrzehntelangen, unterversorgten Medienetat … gut 100.000 ME, was ca. 40% des aktuellen Bestands entspricht, dem Medienangebot in C-W verloren(gegangen)“ (17), so hat das mit den tatsächlichen Gründen nichts zu tun. Der Niedergang des Medienangebots war vielmehr die notwendige Folge der Art und Weise, wie der Fachbereich mit den ihm anvertrauten Beständen umgeht: Seit Jahren sortiert er Medien, die älter als etwa fünf Jahre sind und/oder in den letzten Jahren wenig ausgeliehen wurden, allein nach diesen rein formalen Gesichtspunkten aus. So wurden aus der Abteilung Heimatkunde – also dem historischen Gedächtnis des Bezirks – viele hundert Bücher weggeworfen, bis die zuständige Stadträtin die Anweisung gab, dies zu unterlassen. Oder auch: von 2004 bis 2017 wurde allein in der Abteilung Kunst der Dietrich-Bonhoeffer-Bibliothek 54 % des Bestandes beseitigt (1705 von 3158 Büchern) – mit der offiziellen Begründung: „Der Bestand ist im Verhältnis zu seiner Nutzung [gemeint: die Ausleihe außer Haus, nicht jedoch die Nutzung vor Ort] und im Verhältnis zum Gesamtbestand zu groß.“
Infolge dieser rein schematischen ‚Bestandsbetreuung‘ in allen Abteilungen fiel – trotz deutlicher Zunahme von DVDs und Hörbüchern – bezirksweit die Zahl der Medien je Einwohner von 1,32 im Jahr 2001 auf klägliche 0,71 im Jahr 2019 (7). Obwohl ab 2020 der Medienetat nahezu verdoppelt wurde, ist die Fachbereichsleitung dennoch nicht bereit, umgehend diesen Zustand zu korrigieren. Grund: Es „müssen erst weitere Bibliotheksräume geschaffen werden, da der eingeschränkte Raum für die Medienpräsentation in den Bibliotheken in direkter Konkurrenz zu den übrigen Nutzungsoptionen wie Nutzer*innen-Einzelarbeitsplätze, Gruppenarbeitsräume, Lesesofas, Gaming und Makerspaces stehen ... Erst wenn die Bibliotheksflächen um ein Vielfaches gesteigert werden, kann u.a. auch wieder ein der Bevölkerungsgröße angemessener Bestand an physischen Medien präsentiert werden“ (28). Sollte es wirklich dabei bleiben, wäre auf viele Jahre eine Bestandserweiterung und folglich ein größeres und breiteres Medienangebot blockiert, was eine klare Ansage der Fachbereichsleitung gegen den eindeutigen Wunsch der Nutzer wäre (siehe oben 1.b).
b) Qualität des Bestandes
Hierzu heißt es im BEPl C-W: „Durch die jahrzehntelange, nicht auskömmliche Finanzausstattung beim Medienetat hat die Qualität des Gesamtbestands deutlich gelitten.“ (29) Auch diese Aussage entspricht nicht den Tatsachen – falls unter „Qualität“ die Güte des Bestandes gemeint ist. Denn seit über zehn Jahren wird von der Fachbereichsleitung darauf hingearbeitet, die Stadtbibliothek zu einer „modernen Gebrauchs- und Verbrauchsbibliothek“ zu machen, deren alleinige Aufgabe „die Grundversorgung der Bevölkerung mit aktueller Information und Literatur“ sei (BzStRin H. Schmitt-Schmelz, 2017). Praktisch hieß dies, dass Neuanschaffungen vorwiegend in den Bereichen Ratgeber und gängige Unterhaltungsliteratur, darunter Bestseller, erfolgten. Da der BEPl C-W fortfährt mit: „Insofern werden 2020/21 im ersten Schritt prioritär über- und abgenutzte Medien durch neue ersetzt werden. Im zweiten Schritt wird ein Medienzuwachs von 2 % jährlich angestrebt.“ (29), geht es dem Verfasser gar nicht um Güte und Erweiterung des Bestandes. Offenbar soll es bei den bisherigen Grundsätzen der Makulierung (siehe 2.a), und der Erwerbung bleiben, die laut Auskunft auch in Zukunft größtenteils per Dauerauftrag (standing order) von der Firma ekz erledigt wird. Übrigens ist angesichts eines fast verdoppelten Medienetats nicht nachvollziehbar, wieso der Medienzuwachs bloße 2 % betragen soll; wozu wird der restliche Medienetat verwendet?
c) Mediengeschenke als Störung der Geschäftsgänge
Unter der Überschrift „Straffung von Geschäftsgängen“ (31f.) wird die 2018 vom Fachbereichsleiter angeordnete Ablehnung von Geschenken fortgeschrieben. Begründung: „Durch die gestiegenen Anforderungen an die Bibliotheken bei gleichbleibenden geringen Ressourcen müssen kontinuierlich alle herkömmlichen Geschäftsgänge überprüft und – wenn möglich – nach Kosten-Nutzen-Kriterien sinnvoll im Aufwand reduziert werden.“ Die Ergänzung der Bibliothek durch ungewöhnliche, auf ihre Eignung überprüfte Geschenke wird nicht als Bereicherung erkannt, sondern als Behinderung bei der Ausrichtung auf einen durchrationalisierten Betrieb. Die Befreiung von bibliothekarischen Aufgaben, um Zeit für eher nicht-bibliothekarische Tätigkeiten zu schaffen, ist Teil der schrittweisen Umwandlung der Bibliotheken, in denen deren Kernaufgabe – ein qualitätvoller, sorgfältig betreuter Medienbestand – eine immer geringere Rolle spielen soll (zu den erwähnten „Kosten-Nutzen-Kriterien“ siehe 2.e).
d) Mangel an soziokulturellen Einrichtungen
Während das Hamburger Konzept offen anspricht, welche Rolle der Mangel an soziokulturellen Treffpunkten für die angestrebte Transformierung der Bibliotheken spielt: „zumal Orte der offenen, kostenfreien Begegnung in der Stadt ansonsten rar geworden sind“ (8), fehlt dieser Hinweis im BEPl C-W. Er wäre aber zum besseren Verständnis unbedingt angebracht gewesen, gibt es doch in C-W ebenfalls diesen durch Politik und Verwaltung erzeugten Mangel – und gleichzeitig Projekte von Bürgern zu dessen Überwindung, die entweder schon jahrelang nicht vorankommen – so seit 2015 das Parkwächterhaus am Lietzensee – oder die die Politik trotz 4.000 Unterstützern scheitern ließ – so die Bürgerinitiative Schoelerschlößchen für ein selbstverwaltetes sozio-kulturelles Zentrum, 2015 gegründet und 2019 aufgelöst. Stattdessen wird die Stadtbibliothek umgeformt zu einem Heilmittel für verfehlte Gesellschaftspolitik, und ihre Beschäftigten sollen fachfremd in Bereichen dilettieren, für die sie nicht ausgebildet sind, statt in dem Gebiet zu arbeiten, für das sie ausgebildet sind.
e) Kosten-Leistungs-Rechnung (KLR)
Der BEPl C-W spricht den Konkurrenzkampf zwischen den Bezirken um Senatszuweisungen an: „Sollten … die anderen VÖBB-Bibliotheken außer der in C-W ausgebaut werden und damit deren Nutzungszahlen gesteigert werden, wird die Stadtbibliothek C-W bei der weiterhin bestehenden Budgetierung über KLR nach hinten durchgereicht werden.“ (86, ähnlich 14), weswegen „es zielführend (ist), die Bemühungen der benachbarten Stadtbibliotheken zu beobachten“ (9). Bedauerlicherweise rügt der BEPl C-W – ebensowenig wie das ihn beschließende Bezirksamts-Kollegium oder die dahinterstehenden lokalen Parteien – dieses neoliberale ‚rat race‘ nicht, das die Landesregierungen seit 25 Jahren ausgerechnet im für die Einwohner wichtigsten Kulturbereich der Stadt betreibt (ganz im Gegensatz zu den Touristenmagneten wie Opern, Museen usw.). Vielmehr trägt der BEPl C-W diese Art Wettbewerb selbst mit, und das hat eminente Auswirkungen. Sie zeigen sich nicht nur im verflachenden Niveau des Angebots insbesondere für erwachsene Nutzer (siehe oben), sondern bestimmen letztlich das gesamte Konzept, das darauf abzielt, die „KLR-Produkte“ (33) „Besucher“ und „Entleihungen“ zu steigern, um so – zulasten der Stadtbibliotheken aller anderen Bezirke – für sich selbst mehr Geld herauszuholen.
Nötig wäre vielmehr, dass sich alle Bezirke und die sie tragenden Parteien gemeinsam und vehement für die kulturellen Interessen aller Bürger einsetzen und gegen die KLR Sturm laufen. Denn die KLR hat zum radikalen Qualitätsrückgang beim Bestand, zum Abbau von Personal und öffentlichen Dienstleistungen geführt und die Gemeinwohlorientierung der Bibliotheksarbeit auf weite Strecken zerstört.
3. Unsere wichtigsten Alternativen
Zum Schluß unserer Kritik stellen wir dem BEPl C-W stichwortartig unsere zentralen Vorstellungen von öffentlicher Bibliothek gegenüber:
a) Alleinstellungsmerkmal der öffentlichen Bibliotheken ist, dass sie einen (fast) kostenlosen Zugang eröffnen zu Medien aller Art, die idealerweise in qualitätsvoller Auswahl und von fachlich versiertem Personal ausgewählt und angeboten werden. Dabei ragen vor allem die Verlagspublikationen lebender und nach 1950 gestorbener Autoren hervor, die ausschließlich in öffentlichen Bibliotheken uneingeschränkt frei zugänglich sind (Urhebergesetz). Ohne öffentliche Bibliotheken bleibt die Bevölkerung vom kostenlosen Zugang zu den Angeboten des Buchmarkts, über den ein wesentlicher Teil der Verständigung in unserer Gesellschaft läuft, ausgeschlossen. (Daher haben z.B. die Hamburger Bücherhallen, weil ihr Publikum vorrangig ein reichhaltiges Medienangebot erwartet, ihre Freihandbestände erweitert und mit einem neuen Suchsystem besser recherchierbar gemacht.)
b) Diese zentrale Bedeutung des Buchangebots schließt nicht die Erweiterung des Angebotsspektrums der öffentlichen Bibliotheken als „Dritten Ort“ und als digitale Ressource aus. Diese Erweiterung muß jedoch im Einklang mit der zentralen Aufgabe stehen und darf einen qualitativ hochwertigen Medienbestand nicht behindern oder gar verdrängen (Inhalte im weitesten Sinn gehen technischen Methoden und funktionalem Kompetenzerwerb vor), sondern muß vielmehr diesen Kernbereich der Bibliothek popularisieren und die Bürgerschaft zur engagierten Mitarbeit ermuntern.
c) Statt falsch verstandener „Grundversorgung“ nach KLR-Vorgaben und einer ausschließlichen Ausrichtung an kurzfristiger Aktualität: Bestandsaufbau und Bestandspflege (gedruckt, elektronisch) nach qualitativen Kriterien, die einem Bildungsauftrag folgen, der auch Anschaffungen beinhaltet, die den alltäglichen Rahmen sprengen, verschiedene Felder über den Alltag hinaus abdecken und den speziellen Bedarf des Einzugsbereichs berücksichtigen.
d) Einbeziehung der Nutzer beim Bestandsaufbau und bei öffentlichen Aktivitäten der Bibliotheken. Ihre Initiative gilt es in breitem Umfang zu fördern.
e) Abschaffung der KLR (siehe oben 2.e) und Umsetzung der allgemein anerkannten Mindeststandards bezüglich Finanz-, Raum- und Personalausstattung, insbesondere: 2 € Medienetat/Einwohner, 2 Medien/E, 1 Bibliotheksmitarbeiter/3.000 E, 1 Bibliothek/40.000 E
f) Die öffentlichen Bibliotheken dürfen nie wieder zum Ort einer wie auch immer gearteten, von Parteien oder Verwaltung gelenkten „Volkserziehung“ werden. Ihr Informations- und Bildungsauftrag ist allgemein, zweckfrei und neutral. Nur so können sie die freie, selbstbestimmte und unabhängige Information und Weiterbildung aller Nutzer gewährleisten.
g) Die Stadtbibliothek als „meine persönliche Bibliothek“, d.h.: 1. jederzeit über die eigene Bibliothekskarte zugänglich („Open Library“) und 2. der gesamte VÖBB-Bestand kostenlos nutzbar (Abschaffung der Transportgebühren). Beides würde zu einer sehr intensiven Nutzung der öffentlichen Bibliotheken führen und einen Bildungsschub vorwiegend durch Bücher hervorbringen.
Michael Roeder für die Bürgerinitiative Berliner Stadtbibliotheken
Ergänzung vom 18.9.2020
Nachdem das Bezirksamt eine öffentlich gestellte Einwohnerfrage zum 27.8.2020 nicht beantwortet hatte, wurde der Stadträtin dieselbe Frage per Email am 4.9.2020 erneut zugeschickt:
a) Wann werden Sie die Ihnen am 7. August von der BI Berliner Stadtbibliotheken schriftlich vorgeschlagene öffentliche Diskussion über die Zukunft der Bezirksbibliotheken - unter Beteiligung des Leiters des Fachbereichs Bibliotheken und eines Vertreters der Bürgerinitiative - durchführen?
b) Wann werden Sie zur Vorbereitung auf diese öffentliche Diskussion und überhaupt im Interesse der Bürgerbeteiligung im Website-Teil der Stadtbibliothek einen Link zur Stellungnahme der BI Berliner Stadtbibliotheken - gegebenenfalls auch zu anderen Stellungnahmen - einrichten?
Am 18.9. ließ Frau Schmitt-Schmelz diese Antwort übermitteln:
Zu a und b:
Der BEPl 2020 C-W ist ein auf nationalen und internationalen Bibliotheksentwicklungen basierendes Fachkonzept, das mit dem Beschluss des Bezirksamts zur Weiterentwicklung des Öffentlichen Bibliothekssystems verfolgt werden wird. Der BEPl 2020 Charlottenburg-Wilmersdorf orientiert sich inhaltlich auch an dem zeitgleich stattfindenden Bibliotheksentwicklungsplan-Prozess für den Verbund Öffentlicher Bibliotheken Berlins (VÖBB), der wiederum durch einen intensiven partizipativen Prozess unter Beteiligung vielfältiger begleitet wurde. Damit erfolgte eine breite öffentliche Auseinandersetzung über Bibliotheksentwicklungen in Berlin. Der BEPl 2020 C-W wurde dem Ausschuss vorgelegt und in diesem diskutiert. Sollte der Ausschuss als demokratisch gewähltes Organ die weitere Diskussion wünschen, wird dies sehr gerne vom Bezirksamt begleitet und unterstützt. Darüber hinausgehende Diskussionen sind z. Zt. nicht angedacht.
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* Teile 1 bis 19 sind hier zu finden.
** Kursive Zahlen in Klammern verweisen auf die betreffende Seite des BEPl C-W.
1 Mitglieder: zwei SPD plus einer Grüne Partei (bilden zusammen eine Zählgemeinschaft) sowie zwei CDU
2 Institut für Demoskopie Allensbach, Die Zukunft der Bibliotheken in Deutschland. Eine Repräsentativbefragung der Bevölkerung ab 16 Jahre, November 2015, S. 11ff., 16, 24, 26f.
3 Ebd., S. 10
4 Deutsche Bibliotheksstatistik DBS, 22.7.2019
5 Kinder- Medien-Studie 2017 und Nielsen-Studie 2014- Neueste Erhebung: Kinder Medien Monitor 2020 [ergänzt August 2020]
6 Diese schematische Feststellung ignoriert die inhaltliche Bedeutung einer Ausleihe: Denkanstoß, Erinnerung, Freude, ...
7 VÖBB-Jahresbericht 2019, S. 19
8 Bibliothekskonzept Bücherhallen Hamburg, S. 16
Autor:Michael Roeder aus Wilmersdorf |
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