Bewohner der Künstlerkolonie Berlin
Drei Generationen Familie Rickelt

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Rückblicke auf meine Jugend in der Künstlerkolonie

Wenn ich an die Künstlerkolonie denke erinnere ich mich an den Schrankkoffer der Lina Lassen, und es kommt mir das Brummen der Flugzeugmotoren in der Nacht in den Sinn. Die Häuserblocks waren zum großen Teil von Bom­ben verschont geblieben. (Wie uns die Konzertsängerin Nuscha Richter, die 1945 Dolmetscherin des russischen Stadtkommandanten gewesen war, berichtete, wurde den russischen Bombern befohlen, die Künstlerkolonie zu ver­schonen, weil dort der den Russen bekannte Ernst Busch gewohnt hat. Dennoch fiel eine kleine Bombe in das Haus am Laubenheimer Platz 9. Anm.d.R.). Nach Kriegsende flogen die Militärflugzeuge der Amerikaner über den Laubenhei­mer Platz, der 1963 in Ludwig-Barnay-Platz umbenannt wurde. Sie flogen hier schon tiefer, bevor sie in Tempelhof zur Landung ansetzten. Man konnte die runden Fenster am silbernen Rumpf erkennen. In späterer Zeit, als ich mal mit einer Propellermaschine der British European Airways in Richtung Frankfurt geflogen bin, habe ich den Platz mit den Bäumen und dem Sandkasten von oben sehen können.

Wir hatten Pappe in den oberen Fenstern statt Glasscheiben. Die sehe ich noch, auch wie das Licht schlagartig ins Zim­mer kam, wenn das Fenster geöffnet wur­de. Während der Zeit der Blockade flogen die dicken Brummer im Stunden­rhythmus, aber es störte mich kaum als Kind. Ich spielte auf den Holzdielen des Fußbodens Panzer mit Schachteln, in die ich kleine Zweige steckte. Ich bestaunte die schweren Militär-Panzer der Amerikaner, wenn sie mit grell leuchtenden Scheinwerfern über den Südwestkorso rasselten und die Soldaten von ihrem Kanonenturm herunterwinkten.

Bis auf diese lautstarken Signale der Außenwelt schienen die Häuser um den Laubenheimer Platz wahre Gefilde der Ruhe und Abgeschiedenheit zu sein. Um zwölf Uhr mittags läuteten die Glocken vom Turm der Kirche am nahe gelegenen Bergheimer Platz. Dann klapperten Pferdehufe, ein Wagen der Domäne Dahlem stellte sich auf, die Leute kamen mit Blechkannen, um Milch zu holen. Die Szenerie hat geradezu ländlich gewirkt. Das alles konnte ich als kleiner Junge vom Fenster aus beobachten. Ich wohnte im ersten Stock am Laubenhei­mer Platz 6, zusammen mit meiner Mutter und der Groß­mutter väterlicherseits. Mein Vater (Martin Rickelt) war in sowjetischer Gefangenschaft in Sibirien. Er hatte meine Mutter während des Krieges in der Ukraine kennengelernt, eine junge Sängerin namens Tamara Ponomarenko.

Das war im Fronttheater von Slawjansk, das er leitete. Eine solche Beziehung war natürlich im „Dritten Reich”verboten, aber er hatte es dennoch fertiggebracht, sie nach Deutsch­land reisen zu lassen, wo sie bei seiner Mutter in der Künstlerkolonie unterkam. Geboren wurde ich in Schmargendorf, im Säuglingsheim an der Lentzeallee.

Marie Baumann, meine Großmutter, stammte aus einer großbürgerlichen Familie. Sie war in Riga und Freiburg im Breisgau aufgewach­sen und fühlte sich als junge Frau vom Glanz der aufstre­benden Theater-Me­tropole Berlin mäch­tig angezogen. Sie wollte Schauspiele­rin werden und be­gegnete dem als Cha­rakterdarsteller be­kannt gewordenen Gustav Rickelt, meinem Großvater.

Zu jener Zeit war dieser schon in den Fünfzigern, spielte im Berliner Künstlertheater in Hauptmanns Biberpelz die Rolle des Rentiers Krüger und war mit dem Dichter Frank Wedekind befreun­det. Gustav Rickelt, der spätere Präsident der Bühnen­ genossenschaft und als solcher Gründer der Künstlerkolonie, hatte das abenteuerli­che Wanderleben ei­n es Theater­schauspielers mit allen Sonnen- und Schattenseiten ken­nengelernt. Um 1890 befand er sich mit den Meiningern auf Tour­nee in Amerika. Der Neue Theater-Alma­nach von 1892 ver­merkt ihn als Ensemblemitglied ei­nes deutschsprachi­gen Thalia-Theaters in der Bowery, New York.

In dem autobiografi­schen Buch “Königin, das Leben ist doch schön, mit dem Untertitel „Ein deutscher Theater-Roman”, schildert er an­schaulich einige Episoden aus dieser Zeit. Als mein Vater aus Russland zurückkehrte, versuchte er, wieder als Schauspieler in Berlin Fuß zu fassen. Die Situation war die denkbar schlechteste, die Theater waren zerstört. Immerhin betrieben die Besatzungsmächte Rund­funkstationen. Aber irgendjemand aus dem Nachbarhaus muß ihn wegen seiner russischen Frau bei den Amerika­nern denunziert haben. Daraufhin bekam er Arbeitsverbot beim RIAS. Und im Osten gab ihm ein Kulturfunktionär insgeheim den guten Rat, lieber im Westen zu bleiben. Der das sagte, war Kulturminister der DDR, er hieß Johannes R. Becher (ebenfalls ehem. Bewohner der Künstlerkolonie, Anm.d.R.) und war ein Bekannter von Niels, dem Bruder meines Vaters, der in Dänemark lebte.

Aus der Verbindung meines Großvaters mit Marie Baumann gingen zwei Söhne hervor, Niels und Martin. Da Gustav Rickelt mit einer anderen Frau verheiratet war, hießen sie Baumann. Erst später ließ ihr Vater die beiden legalisieren und seinen Namen annehmen. Nachdem die ersten Wohn­blocks der Künstlerkolonie zwischen Südwestkorso und Kreuznacher Straße errichtet worden waren, bekam Marie Baumann in der Bonner Straße eine Wohnung, die sie mit ihren Söhnen bezog.

Auch ihr Bruder, Paul Baumann, wohnte nun einige Häuser weiter. Er hatte in München einen literarischen Verlag „Die Wende” gegründet und ein kostspieliges Mappenwerk mit Druckgrafiken herausgegeben. Seinerzeit bekannte Künst­ler wie Emil Pirchan, Wilhelm Schnarrenberger und Emil Betzlerwaren daran beteiligt. In Berlin unterrichtete er dann als Lehrer an der Privatschule des Pädagogen Berthold Otto in Lichterfelde. Über diesen hat er in seinen letzten Lebensjahren ein wissenschaftlich-biografisches Werk ver­faßt. Ich bin oft die vielen Stufen zu Paul Baumanns Wohnung in der Bonner Straße 1 hinaufgestiegen und habe mich in die merkwürdigsten seiner unzähligen Bücher vertieft. Dicke alte und wertvolle Folianten mit Bildnissen von Gelehrten und geheimnisvollen Pflanzen standen in den Regalen, die auch die Wände des Flurs einnahmen.

Ein anderer Bruder meiner Großmutter wohnte ebenfalls in der Künstlerkolonie. Hans Baumann, der als Presse­zeichner für die BZ am Mittag begann und sich dann einen Fotoapparat zulegte, um Bilder von berühmten Persönlich­keiten wie Gustav Stresemann, Gerhart Hauptmann oder Mussolini zu schießen. Diese wurden großformatig in der Berliner Illustrierten veröffentlicht. Als die Nazis kamen, ging er nach London, wo er zum Chefreporter der Picture Post avancierte. Als Felix H. Man ist er später in die Geschichte des Foto-Journalismus eingegangen.

Während mein Vater die Berthold-Otto-Schule besuchte, ging sein älterer Bruder Niels auf die Karl-Marx-Schule in Neukölln. Hier hatte er sich schon früh kommunistisch orientierten Schüler- und Studentengruppen angeschlos­sen. Als die Künstlerkolonie, der „rote Block”, im März 1933 von SA-Männern umstellt wurde, fand in der Wohnung meiner Großmutter eine erste Hausdurchsuchung statt. Aber außer ein paar Büchern mit verdächtigem lnhaltfanden sie nicht das, was sie suchten. Niels war bereits unterge­taucht und befand sich auf dem Weg über die Ostsee nach Kopenhagen. Während der deutschen Besatzungszeit agier­te er im politischen Untergrund für den dänischen Wider­stand. Nach dem Krieg blieb er in Dänemark und bekleidete eine Stelle im Staatsarchiv. Das Arbejdermuseet in Ko­penhagen bewahrt seinem politischen Wagemut ein An­denken in Form von Briefen, Dokumenten und Fotos. Darunter auch ein Foto seiner Mutter, die bis zu ihrem Tode 1975 zurückgezogen in ihrer Wohnung in der Bonner Straße 8 lebte.

Meine Eltern und ich waren vom Laubenheimer Platz in die Kreuznacher Straße gezogen. Die von Reben bewachse­nen Fassaden waren sonnenverwöhnt, den ganzen Som­mer über summten die Wespen. Gegenüber erstreckten sich die Schrebergärten bis zum Breitenbachplatz.

Im Parterre unseres Hauses wohnte eine ältere Dame. Es war die Schauspielerin Lina Lassen. Sie trat bereits in Stummfilmen auf, spielte mit Zarah Leander und Gustaf Gründgens und wirkte in einem der letzten Filme des „Dritten Reiches” unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner mit. Ganz oben im Haus sah man ab und zu vom Balkon einen stattlichen Mann mit gebräuntem Oberkörper und Hornbrille herunterschauen, es war der Schriftsteller Os­wald Richter-Tersik, der Unterhaltungsromane wie „Tänze­rin der Liebe” und „Lady Hamilton” verfaßt hatte.

Mein Zimmer ging zum Hof hinaus, der war ziemlich dunkel. Aber wir Kinder rannten dort gern herum, sehr zum Verdruß des Hausmeisters, einer korpulenten Respektsperson. Wir verpaßten ihm den Spitznamen Fiegenklotz und machten uns einen Spaß daraus, vom Hof gejagt zu werden. Sonst malten wir mit Kreide auf dem Asphalt der Straßen am Laubenheimer Platz weitläufige Grundrisse unserer Fantasie­häuser. Kein einziges Kraftfahrzeug war zu sehen, das unser Treiben hätte beeinträchtigen können.

Meine erste Schule war die ehemalige Gartenarbeitsschule in der Dillenburger Straße. Dorthin hatte ich einen recht weiten Weg, der über den Breitenbachplatz führte. Ich habe noch das friedliche Bild des Platzes vor Augen mit den hohen Pappeln, die den Eingang zur U-Bahn überragten. Später kam ich in die gerade neu erbaute Pavillonschule am Rüdesheimes Platz, die zu einem Aushängeschild für die damals moderne Schulpolitik des Berliner Senats wurde. Zur Eröffnung traten wir im Schulchor auf. Bezirksbürger­meister Dumstrey übergab den Goldenen Schlüssel an die Rektorin, Frau Schnee, eine begnadete Pädagogin.

Der Einser-Bus fuhr über den Südwestkorso in Richtung Moabit. Mit diesem Bus fuhr ich abends als Neunjähriger in die Bismarckstraße ins Schiller-Theater. Mein Vater hatte mich dem Intendanten Boleslaw Barlog vorgestellt, und nachdem ich als „Weberjunge” in Hauptmanns Die Weber zu den Ruhrfestspielen nach Recklinghausen mitfahren durfte, bekam ich eine kleine Rolle im „Hauptmann von Köpenick”. Den spielte der legendäre Werner Krauß. Ich trat in einer Szene als Sohn des Bürgermeisters Obermüller auf, den Martin Held an der Seite von Bertha Drews so glänzend witzig darstellte.

Auch beim Film wirkte ich mit, wo ich den erwähnten Regisseur Wolfgang Liebeneiner kennenlernte. Ich spielte einen Jungen in kurzen Lederhosen. Meine Partnerin war Antje Weißgerber: sie verkörperte eine schöne Frau, die im Rollstuhl saß und unglücklich in einen Mann verliebt war (Hans Söhnker). Der Film hieß Die Stärkere. Meine Mutter trat in Konzerten auf, sie sang als Mezzoso­pranistin z.B. auf der Freilichtbühne Rehberge im Wedding die Saffi im Zigeunerbaron von Johann Strauß. Später hat sie mit ihrer klaren und temperamentvollen Stimme russi­sche Lieder von Glinka und Gurilew vorgetragen.

Einige Schauspieler, die mit meinen Eltern befreundet waren, arbeiteten am Berliner Ensemble im Theater am Schiffbauerdamm. Zu ihnen gehörte Heinz Schubert, der mit seiner Frau llse und zwei kleinen Töchtern auch in der Künstlerkolonie wohnte, in der Laubenheimer Straße 7.

Heinz Schubert wurde von Bertolt Brecht entdeckt und entwickelte sich auf dessen epischer Bühne zu einer markanten Darstellerpersönlichkeit. Die Familien Schu­bert und Rickelt sind im Sommer zusammen nach Holland zum Zelten gefahren und später nach Schweden. Ich habe Heinz Schubert als Jugendlicher bewundert, weil er einer der wenigen Erwachsenen war, die es wagten, mit Blue Jeans herumzulaufen. Das war damals verpönt und blieb den verrufenen Halbstarken vorbehalten. Nach dem Bau der Mauer gingen die Schuberts nach Westdeutschland, und in späteren Jahren wurde Heinz Schubert als Ekel Alfred Tetzlaff zum Liebling der Fern­seh-Zuschauer. In jenen Jahren muß in Westberlin eine allgemeine Aufbruchstimmung geherrscht haben. Auch mein Vater folgte einem Ruf an ein westdeutsches Theater. Daß er gegen Ende seiner Schauspielerlaufbahn die Figur des hinterhältig-fiesen Alt-Nazis Onkel Franz in der „Linden­straße” verkörpern und damit populär werden würde, kann vielleicht als Ironie des Schicksals gesehen werden. Für uns hieß es jedoch, Abschied zu nehmen von Freun­den, von Berlin und von der Künstlerkolonie. Zu unserem Umzugsgepäck gehörte unter anderem ein schwerer schwarzer Schrankkoffer, in welchen Anzüge und Kostü­me eingehängt werden konnten. Den hatte die ältere Dame vom Parterre, Lina Lossen, kurz vor ihrem Tod meinem Vater vermacht. Auf dem blechumrahmten Schild konnten Zielort und Absender angegeben werden. Mit Schreibma­schine getippt stand nun hier zu lesen, Zielort: Badisches Staatstheater Karlruhe – Absender: Berlin-Wilmersdorf, Kreuznacherstraße 38. Als Erinnerung an unseren Weg­gang aus Berlin habe ich diesen Schrankkoffer bis auf den heutigen Tag aufbewahrt.

© Michael Rickelt, Künstlerkolonie Berlin e.V.

Autor:

KünstlerKolonie Berlin e.V. aus Charlottenburg-Wilmersdorf

Breitenbachplatz 1, 14195 Berlin
+49 30 98373411
christian@berlinerkuenstlerkolonie.de
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