Ein Nachruf
Herr L.
Er lernte Herrn L. vor etwa acht Jahren kennen, als dieser, neu im Altersheim, zum wöchentlichen Vorlesen als Gast in das Zimmer einer Mitbewohnerin kam. Herr L. war damals zweiundachtzig Jahre alt. Nach ihrem Tod fand die Lektüre der Zeitung nun in seinem Zimmer statt. Selbst konnte Herr L. nur noch mit Schwierigkeiten lesen. Sein großer Kummer war, daß seine Augen immer schlechter wurden, trotz der vielen Spritzen. Ein Vergrößerungsglas half nur kurz ein wenig.
Die Zeitungsartikel gaben Anlaß zu Gesprächen. Dabei erzählte Herr L. auch aus seinem Leben als Jugendlicher in einer kleinen Stadt südlich von Berlin. Besonders bewegte ihn dabei der Krieg und dessen Ende, als er vierzehn war. Er kam in einen Luftschutzkeller in Lichtenrade und berichtete, daß russische Panzer bereits vor der Tür stehen. Ein höherer Nazi beschimpfte ihn als Defätisten und bedrohte ihn mit dem Tod. Später, so sagte Herr L., sei er noch mehrmals knapp dem Tod entgangen, einmal, als ein Schornstein genau auf die Stelle stürzte, auf der er noch kurz zuvor gestanden hatte.
Als Herr L. kaum noch sehen konnte, lernte er, sein Radio zu bedienen, indem er die Knöpfe ertastete und so selbständig Sender und Lautstärke einstellen konnte. Was er dort gehört hatte, bot ihm Stoff zu Unterhaltungen. Dabei zeigte Herr L. großes Interesse am Tagesgeschehen und der weltpolitischen Entwicklung. Viel Sorge machte ihm, daß die zunehmenden West-Ost-Spannungen wieder zu einem Krieg führen könnten.
Aber Herr L. mochte auch gern Gedichte hören, zum Beispiel Schillers Balladen. Manche der vorgelesenen Gedichte hatte er damals in der Schule auswendig gelernt und konnte sie immer noch rezitieren.
Wiederholt brauchte Herr L. von seinem Vorleser, der inzwischen sein Freund geworden war, Unterstützung bei Dingen, die ihn im alltäglichen Leben im Heim bedrückten, oder um nachvollziehen zu können, was für eine medizinische Behandlung bei seinen wiederholten Aufenthalten im Krankenhaus an ihm vollzogen worden war.
Vor zwei Jahren hatte er besonders lange im Krankenhaus liegen müssen. Damals hatte er zum ersten Mal gewünscht, jetzt zu sterben. Er erholte sich noch einmal, aber dann nahm der Kräfteverfall immer weiter zu, ebenso sein Wunsch, tot zu sein. Er wurde bettlägrig und war zunehmend nicht mehr ansprechbar, aber es dauerte doch noch ein ganzes Jahr, bis er endlich am 9. Oktober mit neunzig Jahren starb.
Was bleibt von einem Menschen, wenn er tot ist? Es bleiben in erster Linie Erinnerungen, auf wenige Menschen beschränkt, deren Zahl im Laufe der Jahre außerdem immer kleiner wird. Sein Freund und Vorleser erinnert sich gern daran, wie Herr L. immer herzlich über Erzählungen lachte, in denen die Katze Pia sich ihr neues Heim ganz nach ihren Vorstellungen einrichtete.
Autor:Michael Roeder aus Wilmersdorf |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.