Ein Kommentar
Bezirksamt testet neues Modell: Einwohner fragen, Bezirksamt antwortet nicht
Vermutlich zwecks besserer Verwirklichung „einer umfassenden Beteiligung der Einwohnerschaft an kommunalpolitischen Entscheidungen des Bezirks“ (Wissenswertes) hat sich das Bezirksamt wieder mit den Einwohnerfragen beschäftigt – und vier der sechs BVV-Parteien, darunter alle drei mit Mitgliedern im Bezirksamt, wirken mit. Herausgekommen ist eine erneute wesentliche Einschränkung der Einwohnerfragen: Auf schriftlich vom Bürger einzureichende Fragen gibt das Bezirksamt nur mündlich Antwort, zu deren Entgegennahme der Bürger im Saal zu erscheinen hat.
Bedauerlicherweise hat sich die BVV-Vorsteherin (SPD) in der BVV-Sitzung vom 27. August nicht daran erinnert, daß sie als „erste Bürgerin des Bezirks” die Interessen der Bürger zu vertreten hat – und daß sie außerdem durch Art. 20 III Grundgesetz an Recht und Gesetz gebunden ist, also die geltende Geschäftsordnung mit schriftlichen Antworten*.
Eine Tradition
Die Bestrebungen, die den Bürgern eingeräumten Rechte bei Fragen an das Bezirksamt zurückzunehmen, reichen nicht nur „bis Anfang dieses Jahres zurück”, sondern haben eine siebenjährige Tradition. Schon im Mai 2013 hatte sich deren Begründer, damals bereits Bezirksbürgermeister (SPD), dafür ausgesprochen, Einwohnerfragen nur noch mündlich zu beantworten. Was 2013 seine Forderung war, wurde in seinem Schreiben vom 9.1.2020 an die BVV-Vorsteherin zur Festlegung. Am 14.8. faßte sein Amtskollege (CDU) im Geschäftsordnungsausschuß noch einmal die Begründung zusammen: (a) das Bezirksverwaltungsgesetz (§ 43) verpflichte nicht zu schriftlichen Antworten, (b) mündlich Antworten machten der Verwaltung weniger Arbeit und (c) stärkten sie die parlamentarische Debattenkultur durch Einbeziehung der Bürger.
Dieses neue Modell soll bis Dezember d.J. laufen und dann evaluiert werden. Aber warum so lange warten? Evaluieren wir es gleich.
Argumente des Bezirksamts
Zu (a): Rechtslage Um Wiederholungen zu vermeiden, sei auf den Abschnitt „Rechtliche Aspekte“ in einem Artikel vom Februar verwiesen. Auch die zuständige Aufsichtsbehörde über das Bezirksamt, die Senatsverwaltung für Inneres und Sport, vertritt die Rechtsauffassung : Schriftliche Antworten sind völlig gesetzeskonform (GeschZ.: I A 2 Ro – 0211/6904).
Zu (b): Arbeitsaufwand für das Bezirksamt Üblicherweise lesen die Mitglieder des Bezirksamtes ihre Antworten vom Blatt ab; es gibt also schon eine Schriftform, die nur noch abgeschickt werden muß. Außerdem: Das Bezirksamtsmitglied verwies am 14.8. auf die Möglichkeit, Fragen privat ans Bezirksamt zu schicken. Und dann? Erstens kommt erfahrungsgemäß vielleicht nach mehrmaligem Nachhaken eine Antwort. Und zweitens, falls sie kommt, kommt sie natürlich schriftlich. Macht das weniger Arbeit als die schriftliche Antwort auf eine Einwohnerfrage?
Zu (c): Debatte Bürger-Stadtrat Noch nie hat ein Mensch davon gehört, geschweige denn es erlebt, daß es zu Einwohnerfragen in der BVV-Sitzung irgendeine Debatte gab: Die Verordneten sitzen schweigend da; die Bürger dürfen nur eine Nachfrage stellen und werden dann von der Vorsteherin aus dem Saal entlassen.
Warum eigentlich Antworten in Schriftform?
Eine mündliche Auskunft kann man so oder so gehört haben und hinterher trefflich darüber streiten. Eine schriftliche Auskunft liegt ‚schwarz auf weiß‘ vor, jedermann kann sich auf sie beziehen und sie zitieren. Außerdem hat sie gegenüber der nur mündlichen Antwort eine wichtige demokratische Funktion: Nur dann können alle Bürger auch noch nach Jahren nachlesen, welche Antwort gegeben wurde. Die schriftliche Antwort ist also ein Mittel der Transparenz und verhallt nicht einfach im BVV-Saal.
Warum schriftliche Antworten bei Nichtanwesenheit der Frager?
Weil sonst mindestens folgende Menschen von der „umfassenden Beteiligung an kommunalpolitischen Entscheidungen des Bezirks“ (siehe oben) ausgeschlossen sind: Kranke – Bettlägrige – die sich in Quarantäne befinden – die verreist sind – die auf Arbeit sind – die andere (Kinder, Kranke, …) zu betreuen haben – die zur Zeit der BVV-Sitzung eine anderen Verpflichtung wahrnehmen – die nicht kommen können, weil der Zugang zum Tagungsort (vorübergehend) nicht barrierefrei ist – Gefängnisinsassen – in ihrer Bewegung behinderte Bewohner von Altersheimen – Angehörige einer Risikogruppe.
Genügt den Juristen, Verwaltungsfachleuten und Politologen im Bezirksamt (vier von fünf) diese Aufzählung, um hellhörig zu werden? (Grundsatz der Gleichbehandlung in Art. 3 Grundgesetz)
Warum offizielle Einwohnerfragen statt privater Anfragen?
Einwohnerfragen müssen beantwortet werden, hingegen nicht private Anfragen (und werden es oft auch nicht). Außerdem gehen die Antworten an die Öffentlichkeit und nicht nur an den privaten Frager (womit wir wieder bei der oben erwähnten demokratischen Funktion sind).
NB: Gesetzliche Pflicht der Bezirksverordneten
So gut wie alle involvierten Bezirksverordneten haben offenbar ihre gesetzliche Aufgabe vergessen, nämlich die Tätigkeit des Bezirksamts zu kontrollieren im Interesse der von ihnen vertretenen Bürger – vielmehr halfen sie mit. Und das ein Jahr vor der nächsten Wahl im Herbst 2021.
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* Siehe Absätze 4 und 7 von § 47 der Geschäftsordnung der BVV.
Autor:Michael Roeder aus Wilmersdorf |
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