Material zur Diskussion:
Wen soll man (im September) wählen?

Appel du comité central de la Garde nationale le 25 mars 1871
  • Appel du comité central de la Garde nationale le 25 mars 1871
  • hochgeladen von Michael Roeder

Die Wahlen zu Bundestag, Abgeordnetenhaus und Bezirksverordnetenversammlung (BVV) stehen Ende September an. In einer parlamentarischen Demokratie wie unserer sind bei diesen Wahlen normalerweise nur von Parteien aufgestellte Kandidaten erfolgreich. Dadurch ist von Anfang an ein bestimmter Rahmen geschaffen, auf den im ersten Teil geschaut wird. Als Gegenmodell folgt im zweiten Teil dann ein historisches Beispiel für eine ganz anderen Herangehensweise bei der Wahl von Abgeordneten. Es sei betont, daß es bei dieser Gegenüberstellung allein um die unterschiedlichen Prinzipien geht, nach denen bestimmt wird, wer Volksvertreter wird.

Parlamentarische Demokratie

Die Wähler haben zu den von ihnen gewählten Politikern ein seltsam gespaltenes Verhältnis: Mögen die Politiker mal ein paar Prozente mehr oder weniger* erhalten: letztlich ändert es nichts daran, daß sie – gemeinsam mit Versicherungsagenten und Mitarbeitern von Telefongesellschaften und Werbeagenturen – das geringste Ansehen in der Bevölkerung und damit unter den Wählern genießen. Und dennoch treten die Wahlberechtigten in ihrer Mehrheit alle vier bis fünf Jahre an die Urne, wählen die von ihnen so kritisch gesehenen Politiker und sind gespannt, wer das Rennen macht. 2017 waren es im Land Berlin 76,2 %, die sich an der Wahl zum Bundestag beteiligten, und 2016 für das Abgeordnetenhaus 66,9 % sowie für die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Charlottenburg-Wilmersdorf 63,0 %.

Dieser Widerspruch löst sich leicht auf (zumindest aus der Sicht der Teilnehmer an den Wahlen), denn es sind diese Gewählten, die formal die Gesetze beschließen und damit – abhängig von ihrer Parteizugehörigkeit – auf die eine oder andere Weise erheblichen Einfluß auf das Leben ihrer Wähler ausüben. Und einzelne dieser Gewählten steigen noch viel höher auf zu Ministerposten oder gar ins Bundeskanzleramt. Da stellt sich für manchen schon die Frage: Wie wird man solch ein Politiker?

Wie wird man Politiker?
Zu dem Zweck sei auf die Lebensläufe der fünf momentanen Mitglieder des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf** geschaut sowie die Lebensläufe des Abgeordneten für Charlottenburg-Wilmersdorf im Bundestag, der Vertreterin für Alt-Wilmersdorf im Abgeordnetenhaus und der Kanzlerkandidatin der Grünen. Aus diesen acht Lebensläufen von Mitgliedern von CDU, Grünen und SPD läßt sich in etwa folgender „idealtypische“ Lebenslauf von Politikern ableiten:

Abitur – Studium der Fächer Jura, Betriebswirtschaftslehre oder Politologie an der Hochschule – Parteieintritt mit 16 bis 22 Jahren – Aufstieg in der Partei und dabei Übernahme von öffentlichen Ämtern – Berufsleben fast ausschließlich in der Partei und/oder in der öffentlichen Verwaltung. Das Ergebnis ist der „Berufspolitiker“ als Volksvertreter.

Zur Einordnung noch einige Zahlen (aus den Jahren 2019-2021): 49 % der Schulabgänger haben Abitur; 25 % von diesen erwerben einen Berufsabschluß an einer Hochschule; von diesen wiederum haben 14 % die bevorzugten Fächer der Berufspolitiker – also Jura, Betriebswirtschaftslehre, Politologie – studiert***. Das sind im Endergebnis 1,7 % der Schulabgänger.

Die Parteien in der Gesellschaft
Da man in der parlamentarischen Demokratie praktisch nur zum Volksvertreter werden kann, wenn man sich (möglichst früh) einer Partei anschließt, noch einen Blick auf die Verankerung der Parteien in der Bevölkerung am Beispiel der im Abgeordnetenhaus vertretenen sechs Parteien AfD, CDU, FDP, Grüne, Linke und SPD (Stand Ende 2019): Von den 3,05 Mio. beitrittsberechtigten Bürgern waren 53.000 Mitglied in diesen sechs Parteien, also 1,73 %. Die Mitgliederzahl reichte von 1.500 (= 0,05 % der Beitrittsberechtigten) bei der AfD bis zu 19.700 (= 0,65 %) bei der SPD.

Pariser Kommune­

Das Gegenmodell ist 150 Jahre alt und war im März dieses Jahres ein paar Tage lang Gegenstand der historischen Erinnerung: die Pariser Kommune. Sie war nach Ende des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 am 18. März 1871 entstanden und wurde am 28. Mai gewaltsam beendet. Im Rahmen dieser Erinnerung wurde auch auf ihren Aufruf zu den Pariser Kommunalwahlen im März 1871 hingewiesen. Daraus seien mehrere Appelle an die Wähler zitiert****, die als Gegenstück zu dem jetzt auf uns zukommenden Wahlkampf angesehen werden können:

  • Vergeßt nicht, daß diejenigen Euch am besten dienen werden, die Ihr aus Eurer Mitte wählt, die leben wie Ihr und dieselben Übel erleiden wie Ihr.
  • Mißtraut den Ehrgeizigen ebenso wie den Emporkömmlingen; die einen wie die anderen haben nur ihre eigenen Interessen im Auge und halten sich am Ende immer für unentbehrlich.
  • Zieht diejenigen vor, die sich nicht um Eure Stimme bemühen; das wahre Verdienst ist bescheiden, und es ist die Aufgabe der Wähler, sich ihre Vertreter auszusuchen, statt daß diese sich den Wählern anbieten.
  • Wir sind überzeugt, daß wenn Ihr dies alles beachtet, Ihr die wahre Volksvertretung einsetzt und Volksvertreter findet, die sich niemals für Eure Herren halten werden.

_____________________
* Jeweils auf Seite 40.
** Dort jeweils auf ‚Weitere Informationen‘ und dann auf ‚Biographie‘ gehen.
*** Bezogen auf die Studenten der FU Berlin im Wintersemester 2020/21.
**** Eigene Übersetzung; das Original kann hier eingesehen werden.

Dank an G.H. und R.D. für ihre Anregungen.

Autor:

Michael Roeder aus Wilmersdorf

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