Bericht eines Betroffenen
Obdachlos in Wilmersdorf
Der Senat hat seit September 2021 einen „BERLINER MASTERPLAN zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030“. Aber wieviele Wohnungs- und Obdachlose gibt es überhaupt in Berlin? Zum Stichtag 31.1.2022 hatten die Statistiker 26.000 Wohnungslose ermittelt, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften untergebracht waren. Dazu kommt eine unbekannte Zahl von Menschen, die bei Freunden usw. unterkommen konnten. Insbesondere fehlen die Obdachlosen, also Menschen, die auf der Straße leben und schlafen. Alles in allem schätzt man bis zu 50.000 Wohnungs- und Obdachlose in Berlin.
Eine Zählung im Januar 2020 ergab 2.000 Obdachlose, jedoch gehen Experten von bis zu 10.000 aus. Einer von ihnen ist André. Er erzählt hier über sein Leben als Obdachloser.
Bis 2019 hatte ich fünfzehn Jahre als Schreiner gearbeitet. Wir haben in unserem Betrieb alles mögliche hergestellt, von Schränken bis zu Kinderspielzeug. In jenem Jahr wurde meine Wohnung saniert. Die Miete war danach so hoch, dass ich sie nicht mehr bezahlen konnte. So bekam ich am 11.11.2019, kurz vor Heilig Abend, die Kündigung. Ohne Wohnung habe ich meine Arbeit aufgeben müssen.
An meine Familie konnte ich mich nicht wenden: Meine Mutter hat sich gleich nach der Geburt meiner Schwester scheiden lassen; ich habe sie nie kennengelernt. Das überforderte Jugendamt schickte mich damals ins Heim und gab meine kleine Schwester zur Adoption frei, so dass wir kaum Kontakt miteinander hatten. Mein Vater ist tot.
Meine Freunde waren nur sogenannte: Als ich meine Wohnung verloren hatte und bei ihnen z.B. meine Wäsche waschen wollte, hatten sie keine Zeit oder verleugneten sich. Ankündigungen, mir finanziell unter die Arme zu greifen, wurden nie wahr.
Mehrfach war ich beim Wohnungsamt und beim Jobcenter: Vertröstungen, immer wieder andere Sachbearbeiter, in der Coronazeit kein Publikumsverkehr, nur telefonisch. Irgendwann habe ich resigniert.
So bin ich auf der Straße gelandet.
Ich will nicht kriminell werden. Daher bettel ich, um an Geld zu kommen. Das ist erniedrigend und kostet mich Überwindung. Ich erhalte kein Hartz 4, da ich keine Meldeadresse habe. Mein Ausweis ist abgelaufen, und einen neuen und die Fotos kann ich nicht bezahlen. Und daher bin ich auch nicht bei der AOK versichert und muss jedesmal, wenn ich zum Arzt gehe, weil ich angefahren wurde und die Wunde schlecht heilt, zehn Euro zahlen. Das Leben auf der Straße ist teurer, als man denkt.
Mein Tageslauf sieht so aus: Vormittags und später am Nachmittag sitze ich hier vor dem Supermarkt, nachts liege ich im Schlafsack auf einer Parkbank. Ich habe ein Versteck für den Schlafsack, denn es gibt andere Obdachlose, die ihn mutwillig zerreißen könnten. Zwei- bis dreimal in der Woche, wenn ich die 12,80 Euro zusammenhabe, gehe ich in ein Hostel. Dort habe ich ein Zimmer für mich allein und muss erst um 11 Uhr am Morgen raus. In der Notunterkunft ist man in einem Mehrbettzimmer, wird eventuell beklaut und muss viel früher zurück auf die Straße.
Das Leben auf der Straße ist anstrengend. Es gibt keine Privatsphäre, keinen Rückzugsort. Man kann nichts planen. Die Straße zeichnet einen: ob Winter oder Sommer, 24 Stunden Tag und Nacht draußen. Ich habe meine Bedürfnisse weit runtergeschraubt. Heutzutage ist es eine Freude, eine heiße Dusche oder einen warmen Kaffee zu haben.
Viele Passanten gehen einfach an mir vorbei, manche verdrehen die Augen. Andere fragen mitfühlend: Warum sitzt du hier? Neulich haben mir Kunden des Supermarkts eine Tüte mitgebracht mit Dingen des täglichen Bedarfs: Zahnbürste, Handcreme, Taschentücher und anderes mehr.
Ich werde in diesem Jahr fünfzig. Noch zwanzig Jahre hier? Ich trete auf der Stelle. Ich würde gern wieder in mein vorheriges Leben zurück. Meine Idee ist, einen alten VW-Bus herzurichten mit einer Heizung, ich bin ja Handwerker. Das wäre günstiger als eine Wohnung. Dafür müsste ich viel sparen.
Ich bin Deutscher, habe hier gearbeitet, und das System lässt Leute so durchs Raster fallen. Selbst ein erlernter Beruf gibt keine Sicherheit. Es kann heute jeden treffen. Ich sehe, wie Leute ihre Wohnung verlieren, immer mehr junge Menschen. Und manche älteren Kollegen: Alkohol, sich aufgeben, sich vor die U-Bahn werfen, erfrieren.
Autor:Michael Roeder aus Wilmersdorf |
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