100 Jahre Groß-Berlin
Aus der Not heraus entstanden bis heute beliebte Geschäfte
Sie müssen beängstigend gewesen sein, die Zeiten in Charlottenburg, wie überall in Deutschland, zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Aber ihnen entsprang auch Positives.
Veteranen kehrten traumatisiert von der Front zurück, politische Auseinandersetzungen wurden noch bewaffnet auf der Straße ausgefochten, kein Kaiser mehr, der sagte, was geht und was nicht, die Demokratie erst noch in den Kinderschuhen, wirtschaftliche Not, Hunger, Unsicherheit überall. Es ist heute kaum vorstellbar, aber trotz widrigster Bedingungen fiel während dieser „Dürre“ die Saat wirtschaftlicher Bestrebungen damals auch auf fruchtbaren Boden – anders sind die Geschäfte, die sich zu dieser Zeit gründeten und sich bis heute gehalten haben, nicht zu erklären. Aber wie ist eine Existenzgründung machbar, wenn einem Kugeln um die Ohren fliegen können? Historiker Eike Lorenzen-Schmidt erzählt heute von Autos mit MG-Stand, die damals durch die Straßen fuhren, gesteuert von Kommunisten, SPD-Anhängern oder der NSDAP. „Meine Großmutter hat mir erzählt, wie damals das Kommando lautete: Licht aus, Messer raus, runter vom Balkon!“
„Das ist relativ einfach zu erklären“, sagt Autor Christian Hopfe, der sich mit der Geschichte des Handels, Gewerbes und Handwerks in Charlottenburg und Wilmersdorf intensiv beschäftigt und Bildbände darüber veröffentlicht hat. „Die Geschäftsideen entstanden ja nicht nach großen Entwürfen. Die haben alle ganz klein angefangen.“ Hopfe erinnert an den 1928 gegründeten Feinkostladen Rogacki, heute eine über die Grenzen Berlins bekannte Adresse in der Wilmersdorfer Straße. "Die sind damals mit dem Handwagen los und haben auf der Straße verkauft“, sagt Hopfe. Und die Gründerväter und -mütter hätten sich streng genommen auf Nischen beschränkt. „Der Schreibwarenladen Utermark Schreibkultur, der wie Groß-Berlin 100 Jahre alt ist und heute noch in der Breiten Straße in Schmargendorf existiert, ging zunächst nur mit Feinpapier hausieren.“ Noch ein Beispiel hat Hopfe parat: „Radsport Sonntag in der Uhlandstraße 99, gegründet 1927, hatte sicherlich nur deshalb Erfolg, weil Gründer Carl Sonntag Ratenzahlung ermöglichte.“
Aus der Not heraus wurden die Geschäftsideen also geboren, in Zeiten, als dem Rathaus Charlottenburg die Glasversicherung gekündigt wurde, weil Demonstranten die Fenster des Verwaltungsgebäudes wohl zu oft eingeschlagen hatten. „Umso bedauerlicher, dass viele dieser Unternehmen sterben, weil die Nachfahren es nicht übernehmen wollen oder weil sie die Mieten nicht mehr erwirtschaften können“, findet Christian Hopfe.
Autor:Matthias Vogel aus Charlottenburg |
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