Einmal Neuköllner, immer Neuköllner
Stadtführer Reinhold Steinle streift durch die Kieze und vermittelt Geschichte

Der Neuköllner Stadtführer Herr Steinle – wie immer mit Lederaktentasche und Gerbera – vor einem seiner absoluten Lieblingsläden an der Schillerpromenade, einer Mieder-Manufaktur. | Foto:  Schilp
  • Der Neuköllner Stadtführer Herr Steinle – wie immer mit Lederaktentasche und Gerbera – vor einem seiner absoluten Lieblingsläden an der Schillerpromenade, einer Mieder-Manufaktur.
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Der Mann mit Ledertasche und roter Gerbera – das ist Herr Steinle, Neuköllns berühmtester Stadtführer. Sein Wissen über den Bezirk scheint unerschöpflich. Fast noch wichtiger: Seine Begeisterung für die Lokalhistorie mit ihren großen und kleinen Geschichten ist ansteckend.

Begonnen hat alles vor Jahren während des Festivals „48 Stunden Neukölln“. Eine Künstlerin aus dem Schillerkiez überzeugte Reinhold Steinle davon, es mit einer Kunstführung durch das Quartier zu versuchen. Obwohl er wenig Ahnung vom Thema hatte, zog er mit fünf Teilnehmern los. Es machte ihm großen Spaß. „Damals habe ich zum ersten Mal ein Geschichtsbuch über Neukölln gelesen“, erzählt er. Schnell kam er auf den Geschmack und begann 2008, eigene Touren anzubieten. Die ersten der sieben Rundgänge, die er inzwischen im Repertoire hat, führten rund um den Richardplatz, durch den Reuterkiez und den Schillerkiez mit dem angrenzenden Rollbergviertel.

An der Schillerpromonade hat der gebürtige Schwabe selbst etliche Jahre gelebt. Doch ein Nachbar stellte ihn irgendwann vor die Wahl: „Er hörte Tag und Nacht Techno und hielt nichts von gewaltfreier Kommunikation. Einer musste gehen“, so Steinle. Als Klügerer gab er nach und fand in Schöneberg eine Bleibe. „Aber einmal Neuköllner, immer Neuköllner“, sagt er. Der Bezirk hat es ihm angetan. Dort ändere sich ständig etwas, manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten. Und die Geschichte Neuköllns sei die Geschichte der einfachen Leute, das gefalle ihm.

Gedicht über Rixdorf

Reinhold Steinle hält nichts vom bloßen Herunterbeten von Jahreszahlen und nüchternen Fakten. Seine Geschichten drehen sich oft um Menschen. Um den kleinen Jungen, der in den 1950er-Jahren ehrfürchtig über den Lack des Mercedes 300SL des Schauspielers Horst Buchholz streichelte. Der Luxuswagen parkte vor dem Haus Schillerpromenade 39, wo "Hotte" bei Pflegeeltern aufgewachsen war. Oder es geht um den Dichter Karl Weise. „Er hat hier nie gelebt, aber 1874 im hiesigen Handwerkerverein ein Loblied auf Rixdorf vorgetragen. Dieses eine Gedicht hat sich offenbar bei den Menschen so eingebrannt, dass eine zentrale Straße und eine Schule nach dem Dichter benannt wurden.“ Dass Karl Weise gerne bei einem Bier mit Theodor Fontane plauderte, dessen Namen eine benachbarte Straße trägt, sei hier nur am Rande erwähnt.

Die Schillerkiez-Tour führt auch zum Tempelhofer Feld. Steinle zieht eine Fotografie des Flugpioniers Orville Wright aus der Tasche. Es zeigt ihn im Jahre 1909 neben einem Flugapparat. Rund 350 000 Berliner strömten damals herbei, um zu sehen, wie der Amerikaner mit 172 Metern einen Höhenrekord aufstellte. Flugpionier Wright sei es allerdings mehr um den Verkauf seiner Maschine gegangen als um die sportliche Leistung, erzählt Steinle.

Auch der fast in Vergessenheit geratene Engelbert Zaschka (1895-1955), wohnhaft an der Selchower Straße, probierte sein „Muskelkraft-Flugzeug“ auf dem Feld aus. Kuriose Geschichte schrieb er Ende der 1920er-Jahre mit der Erfindung eines zusammenfaltbaren Autos. Damit wollte er drohender Parkplatznot ein Schnippchen schlagen. Viel Erfolg war Zaschka allerdings nicht beschieden, auch als Schlagertexter („Wer hat den bloß den Hering am Schlips mir festgemacht?“) konnte er nicht überzeugen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er in seine Heimat Freiburg zurück. „Dort konstruierte er Klappfahrräder und Klapp-Skier. Von diesen Geschichten lebe ich“, sagt Steinle.

Er berichtet noch schnell von dem riesigen Sportpark, den Arbeitslose in den 1920er-Jahren auf dem heutigen Tempelhofer Feld anlegten. Er zog sich die gesamte Oderstraße entlang. Und vom Columbiahaus, das die Nazis als „wildes KZ“ missbrauchten und in dem sie auch Erich Honecker und Werner Seelenbinder festhielten.

Dann kehrt Steinle in den Schillerkiez und das Rollbergviertel zurück, die „beste und die schlimmste Wohngegend im damaligen Rixdorf“, so Steinle. Während es rund um die Schillerpromenade recht bürgerlich zuging, waren die Verhältnisse auf dem Rollberg elend. „Kein Grün, nichts. Schimmel an den Wänden und noch in den 1960er-Jahren die höchste Tuberkuloserate“, berichtet Steinle. Das proletarische Wohnquartier mit den düsteren Mietskasernen wurde in den 70er-Jahren abgerissen. Eines hat sich aber nicht geändert: „Getrennt durch die Hermannstraße, haben Schiller- und Rollbergkiez immer noch nichts miteinander zu tun.“

Immer wieder was Neues

Wer eine Führung mit Herrn Steinle unternimmt, erlebt immer wieder etwas Neues. „Ich stelle mich auf jede Gruppe ein. Woher kommen die Leute? Was interessiert sie? Regnet es oder scheint die Sonne und wir können auch mal länger stehenbleiben? Das alles spielt eine Rolle“, sagt er. Manchmal veranstaltet er auch ein kleines Quiz. „Ich erzähle eine wahre und eine gelogene Begebenheit. Wer richtig liegt, kriegt ein Bonbon. Da haben sogar Nicht-Neuköllner eine verdammt gute Chance.“ Bei der Auswahl der Quizfragen kann Reinhold Steinle aus dem Vollen schöpfen: Neben unzähligen alten Postkarten hat er inzwischen mehr als 250 Neukölln-Bücher zusammengetragen.

Der Stadtführer bietet übrigens einmal im Monat eine Tour durchs Rathaus und auf den Rathausturm an, auch für Schulklassen. Wer mehr über die Routen erfahren möchte, die auch nach Britz, in den Körnerkiez und in die Hasenheide führen, wird im Internet auf reinhold-steinle.de fündig.

Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

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